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Sozialleistungen für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern und deren Aufenthaltsrecht
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Auch wenn das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen nicht explizit darauf Bezug genommen hat, sieht sich der EuGH nicht gehindert, alle für die Entscheidung im Anlassfall dienlichen Hinweise zu geben. II. Dass ein Unionsbürger, nachdem er von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hatte, zusätzlich zur Staatsangehörigkeit des Herkunftsmitgliedstaats auch jene des Aufnahmemitgliedstaates erlangt hat, hindert ihn nicht daran, sich weiterhin auf das Freizügigkeitsrecht (Art 21 AEUV, RL 2004/38/EG [Unionsbürger-RL]) zu berufen, weil dieses ansonsten in seiner praktischen Wirksamkeit eingeschränkt würde. Eine Behandlung dieses Falls gleich einem rein innerstaatlichen Sachverhalt verbietet sich sohin. III. Art 7 Abs 1 lit d RL 2004/38/EG verleiht Unionsbürgern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für über drei Monate, wenn diese Familienangehörige sind, die einen Unionsbürger, der die Voraussetzungen der lit a, b oder c leg cit erfüllt, begleiten oder ihm nachziehen. Für den Angehörigenbegriff ist Art 2 Z 2 RL 2004/38/EG maßgebend. Soweit der Angehörigenbegriff des Art 2 Z 2 RL 2004/38/EG die Gewährung von Unterhalt verlangt, etwa für die Eltern (lit d), muss diese Voraussetzung vom Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts (Art 16 ff der RL) durch diese Familienangehörigen vorliegen. IV. Wanderarbeitnehmer genießen in Hinblick auf die sozialen Vergünstigungen im Aufnahmemitgliedstaat eine umfassende Gleichstellung mit dort heimischen Arbeitnehmern (Art 45 Abs 2 AEUV iVm Art 7 Abs 2 VO [EU] 492/2011). Dies trifft auch auf den Zugang zu Sozialleistungen für Familienangehörige iSd Art 2 Z 2 RL 2004/38/EG zu, denen definitionsgemäß Unterhalt gewährt wird. Diese Angehörigeneigenschaft wird sohin durch die Inanspruchnahme einer Sozialleistung nicht in Frage gestellt.
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Keine hinreichende gesetzliche Absicherung der Unabhängigkeit der Rechtsberatung und -vertretung
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Verletzung des Rechtsstaatsprinzips und des Rechts auf einen effektiven Rechtsschutz wegen fehlender hinreichender gesetzlicher Absicherung der Unabhängigkeit der Rechtsberatung und -vertretung. II. Die nicht hoheitliche, privatrechtsförmige Aufgabenwahrnehmung der Rechtsberatung und -vertretung durch die BBU GmbH stellt keine funktionell staatliche Verwaltungsführung iSd Art 20 Abs 1 B-VG dar.
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Dreijährige Wartefrist für Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten (§ 35 AsylG 2005)
LEITSATZ DES GERICHTS: Keine Bedenken gegen die Anordnung einer dreijährigen Wartefrist für den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 35 AsylG 2005.
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Reisebeschränkungen anlässlich COVID-19 vor dem Hintergrund der Freizügigkeit und des Schengener Grenzkodex
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Die RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) regelt das Ausreiserecht nicht nur für andere Unionsbürger, sondern auch für die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats, während sie in Hinblick auf das Einreiserecht bloß Regelungen für andere Unionsbürger enthält. II. Beschränkungen der Freizügigkeit, konkret des Ausreise- und des Einreiserechts (Art 4 und 5 RL 2004/38/EG) sind bereits in Maßnahmen zu erblicken, welche die Ausübung der Rechte weniger attraktiv machen. Zu nennen sind etwa auch Verpflichtungen, sich bei der Einreise zur Eindämmung von COVID-19 Screeningtests oder Quarantänen zu unterziehen. III. Beschränkungen dieser Rechte zum Schutz der Gesundheit (Art 27 Abs 1 und Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG) dürfen nicht wirtschaftlich motiviert sein und nur aus Anlass einer übertragbaren Krankheit ergehen. IV. Weder Art 27 Abs 1 noch Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG steht dem Gebrauch allgemein geltender Rechtsatzformen (in Österreich: Verordnungen iSd Art 18 Abs 2 B-VG) für Beschränkungen der Freizügigkeit entgegen. Auch mittels solcher Rechtsakte verfügte Beschränkungen müssen sich auf Rechtfertigungsebene an den Art 30 bis 32 RL 2004/38/EG messen lassen. V. Den genannten Art 30 bis 32 RL 2004/38/EG ist neben einer staatsgerichteten Pflicht zur Determinierung und Begründung der Maßnahme sowie der Garantie eines Rechtswegs auch ein Verhältnismäßigkeitsgebot zu entnehmen. VI. Die Freizügigkeit beschränkende Rechtsakte mit allgemeiner Geltung müssen neben dem amtlichen Kundmachungsmedium über eine amtliche mediale Verlautbarung in der Weise mitgeteilt werden (leicht zugänglich und kostenlos), dass Inhalt und Wirkungen des Rechtsakts, die Begründung sowie Rechtsbehelfe und Fristen zu deren Erhebung konkret genannt werden (vgl Art 30 Abs 1 und 2 RL 2004/38/EG). VII. Der Rechtsbehelf gegen den Rechtsakt muss wenigstens in Form einer inzidenten Bestreitung der Rechtmäßigkeit anlässlich einer Rechtsstreits, in dem er präjudiziell ist, bestehen (vgl Art 31 RL 2004/38/EG; vgl in Österreich die Möglichkeit der direkten Bekämpfung von COVID-19-Verordnungen anlässlich gerichtlicher Verfahren gemäß Art 144 Abs 1 oder Art 139 Abs 1 Z 4 B-VG). VIII. Dass andere Mitgliedstaaten eine übertragbare Krankheit mit weniger einschneidenden Mitteln bekämpfen, spricht nicht per se gegen die Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen. IX. Die Mitgliedstaaten müssen, wenn sie beschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen, in der Lage sein, geeignete Beweise beizubringen, um darzulegen, dass sie tatsächlich eine Untersuchung zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen durchgeführt haben, und alle sonstigen Nachweise zu erbringen, die ihre Argumentation stützen können. Eine solche Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass die zuständigen nationalen Behörden positiv belegen müssten, dass sich das legitime Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe. X. Bei der Eignungsprüfung ist auch das Vorliegen hinreichender Daten zum Zeitpunkt der Erlassung der Maßnahme zu prüfen. XI. Bei der Erforderlichkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, ob für die Berechtigten wesentliche Reisen erleichtert werden. Das im Gesundheitsschutz anerkannte Vorsorgeprinzip erweitert den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten. XII. Bei der Adäquanzprüfung (Abwägung des Ziels der Verhinderung der Überlastung der Gesundheitssysteme durch COVID-19 insb mit Art 7 und 16 GRC) ist auch zu würdigen, dass die Ausreiseverbote aufgehoben werden, sobald der Zielmitgliedstaat auf der Grundlage einer regelmäßigen Neubewertung seiner Lage nicht mehr als Hochrisikogebiet eingestuft wird. XIII. Bei der Prüfung, ob eine gegen COVID-19 gerichtete Maßnahme verbotenen Grenzkontrollen iSd Art 23 VO (EU) 2016/399 gleichkommt, sind die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Lediglich stichprobenartiger Charakter von Kontrollen, Hauptzwecke der Pandemiebekämpfung und nicht der Bekämpfung rechtswidriger Einreisen sowie der gesundheitspolizeilichen Identifizierung und Überwachung Erkrankter, Gefährlichkeit der Krankheit für die Gesundheitssysteme. XIV. Eine Situation wie die COVID-19-Pandemie mit den Umständen des Jahres 2020 kann als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit iSv Art 25 Abs 1 VO (EU) 2016/399 eingestuft werden, sodass selbst die vorübergehende Wiederaufnahme echter Grenzkontrollen nicht ausgeschlossen erscheint. XV. Die Prüfung von COVID-19-Reiseregeln am Maßstab der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) sowie der VO (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) nimmt der EuGH nicht selbst vor, sondern überlässt sie unter Maßgabe der oben geschilderten Parameter den nationalen Gerichten.
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Dublin-System: Pro Asylantrag ein Merkblatt und ein Gespräch; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der EU
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Die Art 4 und 5 Dublin III-VO sowie Art 29 Eurodac-VO beinhalten Verfahrensvorschriften, die der Wahrnehmung der Rechte von Antragstellern dienen, gegen die eine Dublinüberstellungsentscheidung ergehen soll. Konkret sind den Antragstellern Informationen in Form eines Merkblattes auszuhändigen und es ist mit ihnen ein persönliches Gespräch zu führen. II. Die geschilderten Verfahrensvorschriften (II.) kommen nicht nur beim ersten Antrag in einem EU-Mitgliedstaat, sondern auch bei einem weiteren Antrag auf internationalen Schutz und in den Fällen des Art 17 Abs 1 Eurodac-VO (Abgleich von Fingerabdrücken illegal Aufhältiger) zum Tragen. III. Soweit das Unionsrecht nicht selbst die Rechtsfolgen einer Verletzung seiner Verfahrensgarantien vorgibt, müssen diese vom Mitgliedstaat unter Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes festgelegt werden. IV. Art 27 Abs 1 Dublin III-VO (Anspruch auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf) ist dahin auszulegen, dass damit sowohl inhaltliche Rechtswidrigkeiten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats als auch die Verletzung von Verfahrensvorschriften gerügt werden können müssen, inklusive der genannten Informations- und Anhörungspflichten. Hinsichtlich ihrer Verletzung ist zu differenzieren: Ein Vorenthalten des persönlichen Gesprächs (Art 5 Dublin III-VO) muss zur Nichtigerklärung der Überstellungsentscheidung durch das Rechtsbehelfsgericht führen, es sei denn, nach nationalem Recht besteht die Möglichkeit des Antragstellers, im Rechtsbehelfsverfahren alle seine Argumente gegen die Überstellungsentscheidung persönlich vorzubringen, und diese Argumente sind dazu geeignet, etwas an der Überstellungsentscheidung zu ändern. Fand hingegen ein persönliches Gespräch statt, wurden jedoch in dessen Vorfeld die nach Art 4 Dublin III-VO gebotenen Informationen (Formblätter) vorenthalten, so hat das Rechtsbehelfsgericht die Nichtigkeit der Überstellungsentscheidung nur dann auszusprechen, wenn dieser Verfahrensfehler für ihr Zustandekommen wesentlich war. V. Aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten gilt die Rechtsvermutung, dass Asylanträge in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit GFK und EMRK behandelt werden. VI. Aufgrund der Bedeutung und der Reichweite des Rechtsbehelfs iSd Art 27 Abs 1 Dublin III-VO ist das Gericht verpflichtet, auf Basis objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Lichte der Grundrechte zu prüfen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. VII. Antragsteller können sich auch auf das Refoulementverbot (insb Art 4 GRC) berufen, wenn keine systematischen Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat, sondern nur hinsichtlich ihres Falls die Gefahr einer diesem Verbot widerstreitenden Behandlung vorliegt. Das Rechtsbehelfsgericht hat aber nur systematische Schwachstellen wahrzunehmen, diese liegen aber nicht schon deshalb vor, weil die Refoulementgefahr abweichend vom ersuchten Mitgliedstaat beurteilt wird. Solange keine systematischen Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat vorliegen, darf das Rechtsbehelfsgericht den ersuchenden Mitgliedstaat auch nicht zum Selbsteintritt (Art 17 Abs 1 Dublin III-VO) zwingen.
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