Leitsätze
2212
Veränderte subsidiäre Schutzwürdigkeit durch die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 in Afghanistan
Leitsätze
I. Gesunden und arbeitsfähigen afghanischen Schutzsuchenden, die in Afghanistan keine Anknüpfungspunkte haben (va, weil sie vor der Reise nach Österreich in einem anderen Staat als Afghanistan gelebt haben), wäre unter normalen Umständen eine Rückkehr und ein Aufbau einer Existenz in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar (vgl § 11 AsylG). Derartige normale Umstände liegen aber auf Grund der durch die COVID-19-Pandemie verschärften wirtschaftlichen Situation in Afghanistan für diese Personengruppe gerade nicht vor. Stattdessen betreffen die arbeitsmarkt-, einkommens- und unterkunftstechnischen Verschärfungen im Land va diese Personengruppe. Nach derzeitigem Stand (Juli 2020) kann daher nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass derartige Schutzsuchende bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer dem Refoulementverbot (Art 2 und 3 EMRK, 6. und 13. ZPEMRK) widerstreitenden Behandlung ausgesetzt würden. Ihnen ist daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen (§ 8 Abs 1 Z 1 AsylG). II. Da eine Rsp des VwGH zu dieser Frage der COVID-bedingten Situation junger und erwerbsfähiger Beschwerdeführer ohne spezifische Vulnerabilität im Herkunftsstaat fehlt, ist die Revision an den VwGH zulässig (Art 133 Abs 4 B-VG).
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Entscheidungsdatum: 01.07.2020
Aufbereitet am: 02.02.2021
2211
Dauer eines Aufenthaltsverbots nach Eingehen einer Scheinehe
Leitsätze
I. Eine im Verhältnis geringere Dauer eines Aufenthaltsverbots von Unionsbürgerinnen und -bürgern kann etwa verhängt werden, wenn sich das Fehlverhalten der betroffenen Person im Eingehen einer Aufenthaltsehe erschöpft und nicht der betroffenen Person selbst durch die Scheinehe ein Aufenthaltsrecht verschafft werden soll, sondern der Ehepartnerin bzw dem Ehepartner. II. Zum Schutz und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ist etwa bei Eingehen einer Aufenthaltsehe die Erlassung eines Aufenthaltsverbots notwendig, da der Einhaltung in Bezug auf die Einreise und den Aufenthalt von fremden Personen regelnden Vorschriften ein hoher Stellenwert beizumessen ist. III. Die Einstellung eines Strafverfahrens nach § 117 Abs 4 FPG steht der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes wegen des Eingehens einer Scheinehe nicht entgegen. IV. Die Beurteilung, ob eine Scheinehe vorliegend ist, darf von der Verwaltungsbehörde selbstständig getroffen werden. Es ist dafür nicht notwendig, dass die Ehe für nichtig erklärt worden ist.
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Entscheidungsdatum: 06.07.2020
Aufbereitet am: 01.02.2021
2210
Entscheidungen über Aufenthaltstitel gemäß Art 6 Abs 1 und 2 RL 2003/86/EG aus Gründen der öffentlichen Ordnung
Leitsätze
I. Das unionsrechtliche Auslegungsmonopol des EuGH (Art 267 AEUV, vgl auch Art 19 Abs 1 EUV) besteht auch in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsordnungen das Unionsrecht auf davon nicht erfasste Sachverhalte ausdehnen (selbst wenn das Unionsrecht – wie etwa die RL 2003/86/EG [FamilienzusammenführungsRL] gemäß deren Art 3 Abs 3 – diese Sachverhalte gerade nicht regelt). II. Die Bezugnahme des Art 6 Abs 1 und 2 RL 2003/86/EG auf die öffentliche Ordnung (Entziehung oder Verweigerung der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach der RL aus Gründen der öffentlichen Ordnung) geht nicht so weit wie jene des Art 27 Abs 2 RL 2004/38/EG. So reicht es nach Art 6 Abs 1 und 2 RL 2003/86/EG vielmehr aus, wenn eine solche Entscheidung wegen einer vom betroffenen Drittstaatsangehörigen begangenen Straftat getroffen wird. Es muss nicht auch geprüft werden, ob das individuelle Verhalten dieser Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt. Wohl aber sind aus Verhältnismäßigkeitsgründen die Art und Schwere der Straftat zu berücksichtigen. Darüber hinaus haben die mitgliedstaatlichen Behörden vor Erlassung einer solchen Entscheidung auch eine Prüfung nach Art 17 RL 2003/86/EG anzustellen (zu berücksichtigende Faktoren: Art und Stärke der familiären Bindungen der Person, Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland).
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Entscheidungsdatum: 19.12.2019
Aufbereitet am: 28.01.2021
2209
Unzulässigkeit der Aberkennung des subsidiären Schutzstatus aufgrund aufrechter Rechtskraftwirkung des Zuerkennungsbescheides
Leitsätze
I. Der Rsp des VwGH und VfGH folgend ist es unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkung von Bescheiden nicht zulässig, die Aberkennung nach § 9 Abs 1 Z 1 AsylG auszusprechen, obwohl sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bzw der erfolgten Verlängerung nicht maßgeblich geändert hat. II. Entsprechend dem Prüfschema des VwGH wäre zuerst zu ermitteln, ob seit der erfolgten Erteilung bzw zuletzt erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsbewilligung neue Umstände hinzugetreten sind. Erst wenn dies zu bejahen ist, ist eine neue Gesamtbeurteilung vorzunehmen, bei der alle maßgeblichen Elemente einzubeziehen sind, auch wenn sie sich bereits vor der letzten Verlängerung ereignet haben.
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Entscheidungsdatum: 22.05.2020
Aufbereitet am: 27.01.2021
2208
Keine Mutwilligkeit eines Folgeantrages bei tatsächlicher Sachverhaltsänderung
Leitsätze
I. Die Behörde kann gegen Personen, die offenbar mutwillig die Tätigkeit der Behörde in Anspruch nehmen oder in der Absicht einer Verschleppung der Angelegenheit unrichtige Angaben machen, eine Mutwillensstrafe verhängen. II. Mutwillig handelt, wer sich im Bewusstsein der Grund- und Aussichtslosigkeit seines Anbringens an die Behörde wendet. Offenbar ist der Mutwille, wenn die Inanspruchnahme der Behörde unter solchen Umständen erfolgt, dass die Aussichtslosigkeit, den angestrebten Erfolg zu erreichen, für jedermann erkennbar ist.
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Entscheidungsdatum: 22.05.2020
Aufbereitet am: 26.01.2021
2207
Willkürliches Verhalten der Behörde mangels Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens
Leitsätze
Ein willkürliches Verhalten einer Behörde ist dann anzunehmen, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet.
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Entscheidungsdatum: 24.04.2020
Aufbereitet am: 25.01.2021
2206
Unwirksamkeit von Zustellungen an prozessunfähige Personen
Leitsätze
I. Die Erlassung eines schriftlichen Bescheides hat durch rechtswirksame Zustellung bzw Ausfolgung zu ergehen. Verfahrensakte, wie etwa Zustellungen, gegen prozessunfähige Personen sind unwirksam. Die Behörde kann in einem solchen Fall Verfahrenshandlungen nur gegenüber dem gesetzlichen Vertreter rechtswirksam setzen. II. Die Prozessfähigkeit ist nach Rsp des VwGH als Vorfrage zu beurteilen. Muss die Behörde von Amts wegen oder aufgrund eines eingebrachten Antrages gegen einen Prozessunfähigen, der eines gesetzlichen Vertreters entbehrt, eine Amtshandlung vornehmen lassen, so muss sie einen Kurator bestellen lassen. Im Fall der Anhängigkeit eines Verfahrens zur Vorfrage steht es im Ermessen der Behörde, das Verfahren auszusetzen oder die Vorfrage selbst zu beurteilen.
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Entscheidungsdatum: 24.04.2020
Aufbereitet am: 21.01.2021
2205
Keine aufschiebende Wirkung bei unverzüglich erforderlicher Vorbereitung zur Außerlandesbringung
Leitsätze
I. Angesichts der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung und seiner evidenten Weigerung, freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen, ist das persönliche Erscheinen des Beschwerdeführers zur Regelung seiner Ausreise erforderlich. II. Die Voraussetzung für den Ausschluss einer aufschiebenden Wirkung iSd § 13 Abs 2 VwGVG ist insb erfüllt, wenn der Beschwerdeführer nicht ausreisewillig ist, den Ausreisebefehl nicht befolgt, unrechtmäßig im Bundesgebiet verbleibt, einen offenkundig unzulässigen Folgeantrag stellt, seine Identität und Herkunft verschleiert. Die Vorbereitung seiner Außerlandesbringung ist dann zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens unverzüglich erforderlich.
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Entscheidungsdatum: 31.01.2020
Aufbereitet am: 20.01.2021
2204
Keine Rechtswidrigkeit der Anhaltung bei zeitlich verzögerter Einvernahme eines festgenommenen Fremden
Leitsätze
Die Anhaltung eines Fremden ist bis zu 24 Stunden zulässig, wobei die Anhaltedauer so kurz als möglich zu halten ist. Die Behörde hat im Interesse einer kurzen Haftdauer die dafür notwendigen und zumutbaren organisatorischen und personellen Maßnahmen zu setzen.
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Entscheidungsdatum: 24.04.2020
Aufbereitet am: 19.01.2021
2203
Ausnahme vom Rechtsfolgenausschluss für Jugendstraftaten gemäß § 5 Z 10 JGG in Asylangelegenheiten; Zurückweisung mangels Präjudizialität
Leitsätze
I. Gesetze sind im Allgemeinen auf Sachverhalte anzuwenden, die sich nach ihrem Inkrafttreten ereignen, sofern der Gesetzgeber nicht ausdrücklich anderes bestimmt. II. Da das BVwG § 2 Abs 4 AsylG 2005 bei seiner Entscheidung nicht anzuwenden hatte, war die angefochtene Bestimmung im vorliegenden Fall nicht präjudiziell.
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Entscheidungsdatum: 21.09.2020
Aufbereitet am: 18.01.2021
2202
Notwendige Einzelfall- und Verhältnismäßigkeitsprüfung iSd Art 21 Abs 7 Forscher/Studenten-RL
Leitsätze
I. Im Anwendungsbereich des Art 47 GRC erübrigt sich im Fall der Unterlassung einer nach Art 47 GRC gebotenen mündlichen Verhandlung die Darlegung der Relevanz des in der Unterlassung der Durchführung der Verhandlung gelegenen Verfahrensmangels. Auf den vorliegenden Sachverhalt ist die RL (EU) 2016/801 anzuwenden. Das unbegründete Unterlassen der beantragten Verhandlung vor dem LVwG stellt somit einen relevanten Verfahrensmangel dar. II. Gemäß Art 21 Abs 7 der RL (EU) 2016/801, die bis 23.5.2018 in nationales Recht umzusetzen war, müssen bei jeder Entscheidung über die Entziehung oder Nichtverlängerung von Aufenthaltstiteln die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Es ist somit im Einzelfall zu prüfen, ob es unverhältnismäßig wäre, ungeachtet der Nichterfüllung der nationalen Vorgaben - im vorliegenden Fall des Nachweises eines Studienerfolges im Ausmaß von 16 ECTS-Punkten - einen ausreichenden Studienerfolg zu verneinen. III. Es ist nicht zu erkennen, dass eine versäumte Studienzeit von etwa sechs Wochen (Beginn des Studienjahres mit 1.10.2018, Zulassung zum ordentlichen Studium mit 16.11.2018) für sich gesehen eine Unverhältnismäßigkeit iSd Art 21 Abs 7 RL (EU) 2016/801 darstellt, weil die Revisionswerberin auch vor dem 16.11.2018 Vorlesungen besuchen und sich vorbereiten konnte. IV. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Antrag der Revisionswerberin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung für den Zweck Studierender abgewiesen. Diese Abweisung bewirkt eine Änderung der Rechtsposition der Revisionswerberin und ist daher einem Vollzug iSd § 30 Abs 2 VwGG zugänglich. (Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 21.8.2020)
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Entscheidungsdatum: 15.09.2020
Aufbereitet am: 15.01.2021
2201
Zur Flüchtlingseigenschaft nach Militärdienstverweigerung in Syrien wegen der Befürchtung einer Teilnahme an Kriegsverbrechen
Leitsätze
I. Art 9 Abs 2 lit e RL 2011/95/EU ist dahin auszulegen, dass er einer Feststellung der Militärdienstverweigerung trotz fehlender Formalisierung derselben in einem Verfahren im Herkunftsstaat nicht entgegensteht, wenn das dortige Recht die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht. Nur wenn ein solches Recht besteht, was im Falle Syriens nicht der Fall ist, führt die Nicht-Formalisierung der Verweigerung vor der Militärverwaltung zum Ausschluss des Tatbestands des Art 9 Abs 2 lit e RL 2011/95/EU. II. Art 9 Abs 2 lit e RL 2011/95/EU ist ferner dahin auszulegen, dass für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in Unkenntnis seines zukünftigen Einsatzbereichs in einem Konflikt verweigert, der von der wiederholten und systematischen Begehung von Kriegsverbrechen iSd Art 12 Abs 2 lit a RL 2011/95/EU gekennzeichnet ist (wie dem syrischen Bürgerkrieg), das Ableisten des Dienstes die Beteiligung an solchen Verbrechen mit sich bringt. Denn bereits die indirekte Beteiligung daran reicht aus. III. Zwischen den in Art 10 RL 2011/95/EU taxativ genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung iSv Art 9 Abs 2 lit e leg cit (Verfolgungshandlung) muss eine Verknüpfung bestehen. IV. Die Behörden der Mitgliedstaaten dürfen von der in Leitsatz III genannten Verknüpfung nicht automatisch ausgehen, weil dies zu einer Ergänzung der in Art 10 RL 2011/95/EU genannten Verfolgungsgründe um einen weiteren führen würde und so der Anwendungsbereich der RL gegenüber dem der GFK ausgedehnt werden würde, was dem Regelungsziel der RL widerspräche (ErwG 24 leg cit). Eine Beweislast im Vollsinn des Wortes besteht aber auch nicht auf Seiten von Antragstellern auf internationalen Schutz. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art 9 Abs 2 lit e RL 2011/95/EU näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art 10 leg cit genannten Gründe in Zusammenhang steht. Die Prüfung der Plausibilität dieser Verknüpfung ist Sache der nationalen Behörden und Gerichte.
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Entscheidungsdatum: 19.11.2020
Aufbereitet am: 14.01.2021
2200
Unionsrechtliches Daueraufenthaltsrecht und zehnjähriger Aufenthalt als Ausweisungshindernisse
Leitsätze
I. Im Hinblick auf Art 7 Abs 1 lit a und b der FreizügigkeitsRL sind die Höhe der Vergütung, das Ausmaß der Arbeitszeit und die Dauer des Dienstverhältnisses für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht von Bedeutung. Auch das nachhaltige Bemühen um eine Arbeitsstelle kann ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht vermitteln. Ausschlaggebend ist hierbei, dass dieses Bemühen nicht objektiv aussichtslos sein darf. II. Hat ein Unionsbürger aufgrund eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet ein unionsrechtliches Daueraufenthaltsrecht erworben, so ist sein weiterer Aufenthalt nicht an die Voraussetzungen des § 51 NAG gebunden. Hat die fremde Person ihren Aufenthalt bereits seit zehn Jahren in Österreich, erweist sich eine Ausweisung gemäß § 66 Abs 3 FPG nur dann als zulässig, wenn der weitere Aufenthalt eine nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt.
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Entscheidungsdatum: 06.07.2020
Aufbereitet am: 14.01.2021
2199
Strafbarkeit von Kindesentziehungen im Unionsgebiet und Art 21 AEUV
Leitsätze
I. Zwar stehen das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, jedoch dürfen nationale Strafnormen keine Diskriminierung von Personen bewirken, die nach Unionsrecht Anspruch auf Gleichbehandlung haben. II. Eine nationale Strafnorm, die den Kreis strafbarer Handlungen für Kindesentziehungen im Ausland (und damit auch in EU-Mitgliedstaaten) weiter zieht als für Kindesentziehungen im Inland, bewirkt eine Beschränkung des in Art 21 AEUV verbrieften, sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechts auf Freizügigkeit von UnionsbürgerInnen. III. Diese Beschränkung kann nicht mit praktischen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von pflegschaftsgerichtlichen Entscheidungen im Ausland gerechtfertigt werden, weil eine solche Argumentation darauf hinausläuft, Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzustellen. Für Erstere gibt es aber einen unionsrechtlich determinierten Rechtsrahmen mit der VO (EG) 2201/2003 (Brüssel IIa-VO). Da diese VO vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen geprägt ist, scheitert ein solcher Rechtfertigungsversuch, es bleibt bei einer Verletzung des Art 21 AEUV.
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Entscheidungsdatum: 19.11.2020
Aufbereitet am: 13.01.2021
2198
Keine automatische Gefahr einer Verletzung von Art 2 oder Art 3 EMRK durch eine Abschiebung in den Irak
Leitsätze
I. Im Hinblick auf die Corona-Pandemie ist für eine Person, die keiner Risikogruppe zuzuordnen ist, festzuhalten, dass eine Verletzung des Art 3 EMRK (bei einer Abschiebung in den Irak) nicht zu erkennen ist. II. Bei einer seit etwa einem halben Jahr andauernden Beziehung zu einer Person (hier: zu einer österreichischen Staatsbürgerin), kann davon ausgegangen werden, dass keine derart engen persönlichen Bindungen bestehen, die diese Beziehung iSd Art 8 EMRK als schützenswertes Familienleben qualifizieren würden. Enge persönliche Bindungen zeigen sich bspw in der Länge einer Beziehung oder auch in der Geburt von gemeinsamen Kindern. III. Trotz der aktuell schwierigen Situation im Irak kann grds nicht davon ausgegangen werden, dass jede Rückkehr automatisch existenzielle Nöte oder eine Verletzung der in Art 2 bzw Art 3 EMRK geschützten Rechte mit sich bringt. Insb bei Personen irakischer Staatsangehörigkeit, die gesund und erwerbsfähig sind, über eine Ausbildung und Berufserfahrung verfügen und die Hilfe durch im Irak lebende Angehörige in Anspruch nehmen können, kann sich eine Rückkehrentscheidung in den Irak als zulässig erweisen.
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Entscheidungsdatum: 08.06.2020
Aufbereitet am: 12.01.2021
2197
Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist infolge von Flüchtigkeit und allumfassende Refoulement-Prüfung
Leitsätze
I. Wenn ein nach der Dublin III-VO (604/2013) zu überstellender Antragsteller auf internationalen Schutz zum Zeitpunkt der versuchten Überstellung sich nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufhält, ohne den Behörden des überstellenden Mitgliedstaats seine Abwesenheit mitgeteilt zu haben, so dürfen diese davon ausgehen, dass er "flüchtig" iSd Art 29 Abs 2 Satz 2 Dublin III-VO ist. Dies setzt aber voraus, dass der Antragsteller zuvor über die Pflicht zur Mitteilung informiert worden ist. Aber selbst dann steht es dem Antragsteller noch offen, zu beweisen, dass trotz seiner fehlenden Mitteilung keine Fluchtabsicht vorlag. II. Antragsteller können sich auf Art 29 Abs 2 Satz 2 Dublin III-VO berufen und geltend machen, nicht "flüchtig" gewesen zu sein, mit der Rechtsfolge, dass die Überstellungsfrist bereits abgelaufen ist und nicht verlängert werden kann. III. Art 29 Abs 2 Satz 2 Dublin III-VO verlangt in verfahrensrechtlicher Hinsicht, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. Ein einvernehmliches Vorgehen mit dem zuständigen Mitgliedstaat ist hingegen nicht geboten. IV. Die Prüfung systemischer oder bestimmte Personengruppen betreffender Schwachstellen im Asylwesen des zuständigen Mitgliedstaats (Art 3 Abs 2 UAbs 2 Dublin III-VO) hat im Lichte des Art 4 GRC so umfassend zu erfolgen, dass auch zu prüfen ist, welche Behandlung der Antragsteller nach Abschluss des Asylverfahrens dort erfährt. V. Der Umstand, dass im zuständigen Mitgliedstaat das soziale Sicherungssystem geringere Standards aufweist als im Mitgliedstaat der Antragstellung, rechtfertigt für sich alleine nicht die Annahme einer dem Art 4 GRC widerstreitenden Behandlung.
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Entscheidungsdatum: 19.03.2019
Aufbereitet am: 11.01.2021
2196
Aufenthaltsehe nach § 30 NAG vs § 117 FPG
Leitsätze
I. IZm Strafverfahren wegen des Vergehens einer Aufenthaltsehe kommt die Bindungswirkung verurteilender strafgerichtlicher Entscheidungen im Fall einer freisprechenden Entscheidung nicht zum Tragen; diesfalls hat die zuständige Behörde (bzw das LVwG) eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen, was ein mängelfreies Ermittlungsverfahren und eine vollständige Beweiserhebung voraussetzt. II. Während der Straftatbestand des § 117 Abs 1 FPG darauf abstellt, dass der österreichische Ehepartner "weiß oder wissen musste", dass sich der Fremde etwa für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Ehe berufen will, kommt es für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 Abs 1 NAG auf dieses Wissen oder Wissenmüssen und somit auf die Beweggründe des österreichischen Ehepartners nicht an, sondern ausschließlich auf die Absichten des Fremden. Die zu beurteilenden Sachverhaltselemente unterscheiden sich somit erheblich. III. Bei der Abweisung eines Antrags auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels handelt es sich nicht um eine Bestrafung, weswegen das Doppelbestrafungsverbot ("ne bis in idem") gemäß Art 4 Z 1 7. ZPEMRK nicht relevant ist.
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Entscheidungsdatum: 03.09.2020
Aufbereitet am: 08.01.2021
2195
Abschiebung eines Familienvaters ohne ausreichende Berücksichtigung der Interessen seiner Kinder an einer Aufrechterhaltung der Beziehung
Leitsätze
I. Die Vertragsstaaten der EMRK haben das Recht, strafrechtlich Verurteilte auszuweisen. Bei der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Beendigung des Aufenthalts und dem Interesse des betroffenen Fremden an der Aufrechterhaltung seines Privat- und Familienlebens sind insbesondere die Art und Schwere der Straftaten, die Höhe der dafür verhängten Strafe und das seither an den Tag gelegte Verhalten zu berücksichtigen. Die Schwere einer Straftat ist nicht nur anhand der verhängten Strafe zu beurteilen, sondern anhand der Natur der begangenen Tat, der konkreten Umstände ihrer Begehung und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft. II. Bei jeder Ausweisung sind die Interessen der davon betroffenen Kinder vorrangig zu berücksichtigen. III. Die vom EGMR entwickelten Kriterien für die Interessenabwägung bei Ausweisungen, die in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen, sollen in erster Linie den Mitgliedstaaten die Anwendung von Art 8 EMRK erleichtern. Welchen Kriterien in einem konkreten Fall welches Gewicht beizumessen ist, hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab. IV. Wenn die innerstaatlichen Gerichte eine Interessenabwägung anhand einer angemessenen Anwendung der vom EGMR entwickelten Kriterien vorgenommen haben, wird der EGMR deren Ergebnis nur dann durch seine eigene Einschätzung ersetzen, wenn es dafür sehr gewichtige Gründe gibt. V. Es genügt den Anforderungen von Art 8 EMRK nicht, wenn ein Gericht unter Verweis auf eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts keine Interessenabwägung anhand aller relevanten Kriterien vornimmt, sondern sich auf die Feststellung beschränkt, es würden keine außergewöhnlichen Gründe vorliegen, die ein Überwiegen der privaten und familiären Interessen gegenüber dem durch eine strafrechtliche Verurteilung begründeten öffentlichen Interesse an der Ausweisung annehmen ließen. VI. Eine Verurteilung wegen der Fälschung von Aufenthaltstiteln in rund 30 Fällen kann nicht als so schwerwiegend angesehen werden, dass sie das Interesse der Kinder der betroffenen Person an einer Fortführung des Familienlebens im Aufenthaltsstaat in jedem Fall zurücktreten lässt.
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Entscheidungsdatum: 24.11.2020
Aufbereitet am: 07.01.2021
2194
Aktualität des Lichtbildes iSd § 2a Abs 2 NAG-DV ist keine Antrags-, sondern eine Erfolgs- bzw Erteilungsvoraussetzung
Leitsätze
I. § 2a Abs 2 NAG-DV zielt offenbar darauf ab, dass mit Erteilung des Aufenthaltstitels, die gemäß § 1 NAG-DV mit Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) des Aufenthaltstitels als Karte bewirkt wird, ein aktuelles Lichtbild des Antragstellers für die Ausfolgung der Karte vorliegt. Die Karte muss den Vorschriften der VO (EG) 1030/2002 entsprechen, die ua in Art 9 die Anbringung eines Lichtbildes vorsieht. II. § 7 Abs 1 Z 3 NAG-DV kann bei verständiger Auslegung nur so verstanden werden, dass die in § 2a NAG-DV enthaltenen Anforderungen hinsichtlich Format und technischer Spezifikationen erfüllt sein müssen, zumal die Beurteilung, ob das vorgelegte Foto im Entscheidungszeitpunkt nicht älter als sechs Monate sein wird, im Zeitpunkt der Antragstellung unmöglich ist. III. In einer Konstellation wie der vorliegenden, in der der Mitbeteiligte seiner Verpflichtung zur Vorlage eines Lichtbildes gemäß § 2a Abs 2 NAG-DV zunächst nachgekommen ist, das Lichtbild jedoch aufgrund der Dauer des Verfahrens den Kriterien des § 2a Abs 2 NAG-DV zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr genügt, geht es um die Beurteilung einer Erfolgs- bzw Erteilungsvoraussetzung, deren Fehlen allenfalls zur Abweisung des Antrages führt, nicht jedoch zur Zurückweisung gemäß § 13 Abs 3 AVG berechtigt.
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Entscheidungsdatum: 09.09.2020
Aufbereitet am: 06.01.2021
2193
Drohender Militärdienst bei Zumutbarkeitskalkül nach § 19 Abs 8 Z 3 NAG bedeutsam
Leitsätze
Der VwGH hat bereits ausgesprochen, dass die fehlende Absolvierung eines Wehrdienstes (bzw dort insb die Möglichkeit eines "Freikaufs" hiervon) im Rahmen des Zumutbarkeitskalküls nach § 19 Abs 8 Z 3 NAG jedenfalls Berücksichtigung finden kann (vgl VwGH 22.3.2011, 2009/21/0232). Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das LVwG die im Erkenntnis VwGH 2001/19/0014 zur alten Rechtslage (nach § 14 Abs 5 FRG 1997) erfolgten Ausführungen zur Beachtlichkeit des Umstandes, dass ein seit mehr als zehn Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Fremder seinen Wehrdienst im Herkunftsstaat noch nicht abgeleistet hat, als auf die geltende Rechtslage übertragbar angesehen hat.
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Entscheidungsdatum: 09.09.2020
Aufbereitet am: 05.01.2021