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Judikatursammlung

Asyl wegen patriarchalischer Zustände im Herkunftsstaat

Leitsatz des Gerichts:
I. Dass ein verwaltungsgerichtliches Erkenntnis im Bescheidbeschwerdeverfahren von einem der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts kassiert worden war, macht das im zweiten Rechtsgang erkennende, selbe richterliche Organ nicht befangen iSd § 14 VwGVG iVm § 7 AVG, wenn nicht weitere Umstände hinzutreten.

II. Antragsteller*innen, die in ihrem Herkunftsstaat den Wertvorstellungen der Familie durch Eheschließung ohne deren Einverständnis zuwidergehandelt haben und die deshalb Ziel privater asylrelevanter Verfolgungshandlungen sind, können sich auf den Asylgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe berufen.

III. In der Türkei fehlt gegen asylrelevante Verfolgungshandlungen Privater aus Gründen der Familienehre ein effektiver staatlicher Schutz.

IV. Trotzdem man vor asylrelevanten Verfolgungshandlungen Privater aus Gründen der Familienehre in anderen Provinzen der Türkei als der Herkunftsprovinz grs sicher ist, ist damit nicht stets eine innerstaatliche Fluchtalternative iSd § 11 AsylG verbunden. Scheitern kann deren Vorliegen insb an fehlenden sozialen und wirtschaftlichen Anknüpfungspunkten, der Eigenschaft als geschiedene Alleinerzieherin, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage.
- | Online seit - 25.01.2023
2958

Judikatursammlung

Zum Eingehen einer Beziehung während eines unsicheren Aufenthaltsstatus

Leitsatz des Gerichts:
I. Obwohl eine Verurteilung der fremden Person bereits getilgt wurde und die Person somit als gerichtlich unbescholten gilt, darf die Straffälligkeit im Rahmen der Interessenabwägung nach Art 8 EMRK berücksichtigt werden.

II. Verbleibt die fremde Person unter beharrlicher Missachtung einer bereits rechtskräftig auferlegten Ausreiseverpflichtung jahrelang illegal in Österreich und hält sich diese mehrere Jahre unter Verletzung der Meldeverpflichtung im Verborgenen auf, so ist von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung der fremden Person auszugehen.

III. Bestehen anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat, weil die fremde Person dort etwa den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht hat, im Herkunftsstaat sozialisiert wurde, die Landessprache als Muttersprache spricht, eine Schulbildung absolviert und gearbeitet hat und auch Familienangehörige (beispielsweise die Mutter und der Onkel der fremden Person) dort leben, so führt die Rückkehrsituation regelmäßig zu keinem Überwiegen der Interessen an einem Verbleib in Österreich.
- | Online seit - 24.01.2023
2956

Judikatursammlung

Zum Heimreisezertifikat-Verfahren und diesbezüglichen Mitwirkungspflichten der fremden Person

Leitsatz des Gerichts:
I. Für die zur Ausreise verpflichtete Person bestehen keine parallelen Mitwirkungspflichten nach § 46 Abs 2 FPG und nach § 46 Abs 2a FPG. Wurde bereits ein Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates nach § 46 Abs 2a FPG geführt, so hat das BFA daher bereits von seiner Ermächtigung Gebrauch gemacht und darf der fremden Person während dieses Verfahrens keinen Auftrag zur Beschaffung eines Reisedokuments aus Eigenem erteilen.


II. Werden vom BFA völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt und darüber hinaus entscheidungswesentliche Umstände gar nicht bzw nur rudimentär ermittelt, so erweist sich das Verfahren als grob mangelhaft. Sind aus dem vorgelegten Akt aufgrund der ungeeigneten Ermittlungsschritte etwa weder der Stand des Heimreisezertifikat-Verfahrens zu entnehmen noch an die fremde Person gerichtete Aufforderungen betreffend eine Mitwirkung oder die Beschaffung eines Reisedokuments aus Eigenem, so hat eine Zurückverweisung und folglich eine neuerliche Entscheidung durch das BFA zu erfolgen.
- | Online seit - 23.01.2023
2949

Judikatursammlung

In Dänemark rechtskräftig entschiedene Asylanträge gelten nicht als "Erstanträge"

Leitsatz des Gerichts:
I. Dänemark unterliegt dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zufolge des primärrechtsrangigen Protokolls Nr 22 nicht. Insb ist dieser Mitgliedstaat nicht an die RL 2011/95/EU (StatusRL) und die RL 2013/32/EU (VerfahrensRL) gebunden, sieht doch das konkretisierende Abkommen zwischen der EU und Dänemark, ABl 2006 L 66/38, nur die Anwendung der Dublin III-VO (604/2013) auf Dänemark vor.

II. Auf Grund der örtlichen Nicht-Geltung des genannten Richtlinienwerks (I.) sind in Dänemark gestellte Asylanträge bzw getroffene rechtskräftige Asylentscheidungen nicht als "Erstanträge" iSd Art 2 lit b RL 2013/32/EU bzw "bestandskräftige Entscheidungen" (lit e leg cit) anzusehen.

III. Dies (II.) führt wiederum dazu, dass ein Asylantrag in anderen EU-Mitgliedstaaten als Dänemark nicht als "Folgeantrag" (Art 2 lit q RL 2013/32/EU) angesehen werden darf, dem ein in Dänemark geführtes Asylverfahren vorausgegangen ist. Folglich greift für diese Anträge der Unzulässigkeitstatbestand des Art 33 Abs 2 lit d RL 2013/32/EU nicht. Nationales Recht der Mitgliedstaaten der "Rest-EU", das hingegen an zuvor in Dänemark geführte Asylverfahren anknüpft und diese als Erstanträge qualifiziert, ist mit Unionsrechtswidrigkeit behaftet und weicht dem Anwendungsvorrang.
- | Online seit - 20.01.2023
2951

Judikatursammlung

Durchführung einer Interessenabwägung vor der Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR

Leitsatz des Gerichts:
I. Obwohl Art 8 EMRK keiner Kategorie von Fremden ein absolutes Recht gewährt, nicht ausgewiesen zu werden, kann es Umstände geben, unter denen eine Ausweisung gegen Art 8 EMRK verstößt. Die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung ist nach den Kriterien vorzunehmen, die vom EGMR in Boultif/CH dargelegt und in Üner/NL ergänzt wurden.

II. Bei der Einschätzung der Notwendigkeit eines Eingriffs in ein durch Art 8 EMRK geschütztes Recht genießen die Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum. Der EGMR wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung der nationalen Instanzen nicht durch seine eigene ersetzen, wenn unabhängige und unparteiische innerstaatliche Gerichte den Sachverhalt sorgfältig geprüft, die relevanten menschenrechtlichen Standards in Übereinstimmung mit der EMRK und der dazu ergangenen Judikatur angewendet und die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers angemessen gegen die allgemeinen öffentlichen Interessen im konkreten Fall abgewogen haben. Wenn jedoch die innerstaatlichen Instanzen diese Interessenabwägung ohne Verweis auf die Rsp des EGMR vorgenommen haben, wird der EGMR die endgültige Entscheidung darüber treffen, ob die Ausweisung mit Art 8 EMRK vereinbar wäre.

III. Wenn die innerstaatlichen Gerichte - wie im vorliegenden Fall - bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung eines straffällig gewordenen Migranten zwar die in der Rsp des EGMR entwickelten Kriterien berücksichtigt, dabei aber nicht auf die relevanten Urteile verwiesen und darauf abgestellt haben, ob die Ausweisung eine "übermäßige Härte" darstellen würde oder ihr "sehr zwingende Gründe" entgegenstehen würden, wird der EGMR selbst eine Interessenabwägung vornehmen.

IV. Bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, ist deren Interessen "erhebliches Gewicht" beizumessen. Allerdings betrifft eine Ausweisungsentscheidung wegen einer Straftat zuallererst den Straftäter selbst. Im Kontext von Abschiebungen wegen einer Straftat können die Interessen der Familie durch andere Faktoren, einschließlich der Schwere der Straftat, aufgewogen werden.

V. Die Ausweisung eines Fremden, der im Alter von 31 Jahren eingereist ist, 11 Jahre im Gaststaat verbrachte und davon vier Jahre lang strafbaren Aktivitäten nachging, wirtschaftlich nicht integriert ist und wegen jahrelang verübter Betrugsdelikte mit zahlreichen Opfern und hohen Schäden zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde, ist nicht unverhältnismäßig, wenn seine Familie nicht akut von seiner Unterstützung abhängig ist und ihr zudem eine gemeinsame Ausreise zumutbar wäre.
- | Online seit - 19.01.2023
2954

Judikatursammlung

Fehlende innerstaatliche Fluchtalternative bei Zugehörigkeit der Verfolger zum staatlichen Sicherheitsapparat

Leitsatz des Gerichts:
I. Liegt eine Gefährdung teils wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und teils wegen rein krimineller Bedrohungen vor, so ist von Asylrelevanz der Verfolgung auszugehen, wenn die Verfolger einer radikalen Gruppe angehören, die nicht bereit ist, die Glaubensrichtung der betroffenen Person oder deren oppositionelle Haltung der radikalen Gruppe gegenüber zu akzeptieren, sondern vielmehr versucht, diese Person durch den Einsatz von Gewalt von ihren religiösen und politischen Ansichten abzubringen.

II. Wird eine Person durch eine Gruppe verfolgt, die als Teil des Sicherheitsapparates im ganzen Heimatstaat operiert, so ist nicht vom Vorliegen einer Fluchtalternative im Heimatstaat auszugehen.
- | Online seit - 18.01.2023
2953

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Nigerianische Opfer von Menschenhandel als Mitglieder einer sozialen Gruppe

Leitsatz des Gerichts:
I. Damit der Verfolgungsgrund "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" (Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK) erfüllt ist, müssen die Mitglieder einer Gruppe zum einen ein gemeinsames identitätsstiftendes Merkmal oder einen gemeinsamen nicht (zumutbar) veränderlichen Hintergrund haben. Zum zweiten müssen sie hiedurch eine von der Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsstaat deutlich abgegrenzte Identität erlangen.

II. Bei Opfern von Menschenhandel aus Nigeria ist – ungeachtet der Umstände des Einzelfalles – davon auszugehen, dass diese beide Merkmale des Begriffs einer "sozialen Gruppe" erfüllen (I.).

III. Der VwGH war in seinem Beschluss vom 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, anders als der VfGH in dessen Erkenntnis vom 1.7.2022, E 309/2022, davon ausgegangen, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind, in Nigeria nicht automatisch eine abgegrenzte Identität hätten, vielmehr komme es auf den Einzelfall an. Da der VfGH dies in seinem zitierten Erkenntnis anders gesehen hat und das BVwG Letzterem gefolgt ist, ist die Revision an den VwGH zulässig (Art 133 Abs 4 B-VG).
- | Online seit - 17.01.2023
2950

Judikatursammlung

Keine Abschiebung trotz Straffälligkeit bei langer Aufenthaltsdauer und positiver Zukunftsprognose

Leitsatz des Gerichts:
I. Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Aufenthalt iVm dem Vorliegen von integrationsbegründenden Aspekten einer fremden Person im Bundesgebiet ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen.

II. Bedauert eine verurteilte Person ihre Taten und absolviert sie eine entsprechende Therapie, so ist folglich die Gefahr der Begehung von Wiederholungstaten erheblich gemindert. In der Gesamtbetrachtung des Lebenswandels der fremden Person kann die Erstellung einer positiven Zukunftsprognose gerechtfertigt sein.
- | Online seit - 16.01.2023
2948

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Vorübergehende Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in Schweden

Leitsatz des Gerichts:
I. Den Vertragsstaaten ist bei der Entscheidung über die Einführung einer Wartefrist für die Familienzusammenführung zu Personen, denen subsidiärer oder vorübergehender Schutz gewährt wurde, ein weiter Ermessensspielraum zuzugestehen.

II. Zwar sieht der EGMR keinen Grund, die Logik einer zweijährigen Wartefrist für die Familienzusammenführung in Frage zu stellen, gewinnen über eine solche Dauer hinaus die unüberwindbaren Hindernisse für ein Familienleben im Herkunftsstaat fortschreitend mehr Bedeutung bei der Einschätzung des gerechten Ausgleichs. Obwohl aus Art 8 EMRK keine generelle Verpflichtung eines Staats abgeleitet werden kann, eine Familienzusammenführung in seinem Territorium zu gewähren, verlangen Ziel und Zweck der Konvention eine Auslegung und Anwendung ihrer Bestimmungen, die ihre Anforderungen in ihrer Anwendung auf den Einzelfall praktisch und effektiv machen und nicht theoretisch und illusorisch.

III. Angesichts der Herausforderungen, mit denen Schweden 2015 durch die erheblich angestiegene Zahl von Asylwerber*innen konfrontiert war, war es gerechtfertigt, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten vorübergehend auszusetzen. Dabei ist auf die konkrete Situation der betroffenen Personen abzustellen, die keine besondere Verletzlichkeit oder Abhängigkeit geltend machten und bei denen die Wartefrist aufgrund der eintretenden Volljährigkeit de facto weniger als eineinhalb Jahre betrug.

IV. Die Frage, ob sich subsidiär Schutzberechtigte in einer Situation befinden, die mit der Situation von Personen vergleichbar war, denen der "Flüchtlingsstatus" zuerkannt wurde, kann nicht abstrakt oder generell beantwortet werden. Sie ist vielmehr anhand der spezifischen Umstände und insb in Bezug auf das geltend gemachte Recht – in diesem Fall das Recht auf Familienzusammenführung – zu beurteilen. Die Frage kann aber auch hinsichtlich des Rechts auf Familienzusammenführung nicht abstrakt beantwortet werden.

V. Von der Annahme ausgehend, dass sich subsidiär Schutzberechtigte und Asylberechtigte im Hinblick auf die Familienzusammenführung in einer vergleichbaren Situation befinden, erachtet der EGMR die in Schweden nur für subsidiär Schutzberechtigte eingeführte vorübergehende Aussetzung des Nachzugs als durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt.
- | Online seit - 13.01.2023
2947

Judikatursammlung

Art 8 EMRK und die Berücksichtigung des Kindeswohls bei der Abschiebung eines schulpflichtigen Minderjährigen

Leitsatz des Gerichts:
I. Bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betreffend Minderjährige ist das Kindeswohl besonders zu berücksichtigen. So würde etwa die Trennung von einem unbescholtenen Vater und dessen minderjährigem (und damit besonders vulnerablen) Kind eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben nach Art 8 EMRK darstellen.

II. Bei einem minderjährigen Kind ist dessen biopsychosoziales Überleben und dessen Entwicklung sicherzustellen. Dabei ist insb auf die Kontinuität sozialer Beziehungen und der Umgebung Rücksicht zu nehmen oder der Zugang zu adäquaten Bildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Im Rahmen der Interessenabwägung ist hier auch insb zu beachten, dass jede Trennung (zB von Familienangehörigen oder anderen Bezugspersonen) für Minderjährige sehr belastend sein kann.
- | Online seit - 12.01.2023
2946

Judikatursammlung

Zu den Voraussetzungen der (Nicht-)Aufhebung bzw (Nicht-)Verkürzung eines Einreiseverbots

Leitsatz des Gerichts:
I. Kann die fremde Person ihrer Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig nachkommen, da sie sich etwa in Straf- oder Schubhaft befindet, so hat die Person selbst diesen Umstand verschuldet. Folglich kann die Voraussetzung der "Freiwilligkeit" im Falle einer beantragten Verkürzung eines Einreiseverbots nach § 60 Abs 2 FPG von Vornherein nicht erfüllt werden, weshalb eine allfällige Verkürzung der Dauer des Einreiseverbots nicht möglich ist.

II. Ist eine Verkürzung oder Aufhebung eines Einreiseverbots aufgrund des Nichtvorliegens der hierfür notwendigen Voraussetzungen nicht möglich, so kann bei Vorliegen zwingender Gründe des Art 8 EMRK im Wege der Antragstellung nach § 55 AsylG die Gegenstandslosigkeit des Einreiseverbots für die fremde Person erwirkt werden.

III. Für die Verkürzung eines Einreiseverbots ist der Zeitraum, der nach der Ausreise im Ausland verbracht wurde, maßgeblich. Die fremde Person muss nach der fristgerechten Ausreise einen Zeitraum von mehr als der Hälfte des seinerzeitigen Einreiseverbots im Ausland verbringen. Liegt diese Voraussetzung (neben jener der freiwilligen Ausreise) nicht vor, so erübrigt sich eine inhaltliche Prüfung, ob es zu einer Änderung jener Umstände gekommen ist, die für die Erlassung des seinerzeitigen Einreiseverbots maßgeblich waren.
- | Online seit - 11.01.2023
2945

Judikatursammlung

Gründe für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung

Leitsatz des Gerichts:
I. Ist nach den aktuellen Länderfeststellungen zum betreffenden Staat (hier: Pakistan) in einigen Landesteilen vom Vorfinden einer gesicherten Existenzgrundlage auszugehen, so kann die Deckung der existenziellen Grundbedürfnisse angenommen werden. Die Zumutbarkeit ist auch gegeben, wenn sich die Beschaffung der Mittel zum Lebensunterhalt schwieriger gestaltet als in einer vergleichbaren Situation in Österreich.

II. Bei einem mehr als zehn Jahre andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet und dem Erreichen einer gewissen Integration ist zu prüfen, ob und warum öffentliche Interessen ein zwingendes Verlassen des Bundesgebiets durch die fremde Person rechtfertigen würden. Bei einem mehr als zehnjährigen inländischen Aufenthalt einer fremden Person ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen.
- | Online seit - 10.01.2023
2944

Judikatursammlung

Daueraufenthaltsrecht kraft fünfjährigen Aufenthalts auf der Grundlage des Art 20 AEUV

Leitsatz des Gerichts:
I. Art 3 Abs 2 lit e RL 2003/109/EG nimmt Personen, deren Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat "ausschließlich vorübergehender" Art ist, vom Kreis der nach fünfjährigem rechtmäßigen Aufenthalt Daueraufenthaltsberechtigten (Art 3 Abs 1 iVm Art 4 Abs 1 RL 2003/109/EG) aus. Der Begriff des "ausschließlich vorübergehenden" Aufenthalts ist als autonomer Begriff des Unionsrechts EU-weit einheitlich auszulegen.

II. "Ausschließlich vorübergehende" Aufenthalte iSd Art 3 Abs 2 lit e RL 2003/109/EG sind solche, die objektiv betrachtet zeitlich streng begrenzt und auf kurze Dauer angelegt sind.

III. Auf Art 20 AEUV gestützte Aufenthaltsrechte unterfallen dem ersten Tatbestand des Art 3 Abs 2 lit e RL 2003/109/EG ("ausschließlich vorübergehender" Aufenthalt) nicht. Nach fünf Jahren ihres Rechtsbesitzes kann sohin gemäß Art 4 Abs 1 RL 2003/109/EG die Stellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten (Daueraufenthaltsberechtigten) erworben werden.
- | Online seit - 09.01.2023
2943

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Covid-19-bedingte Aussetzung der Durchführung von Dublin-Überstellungsentscheidungen unterbricht Überstellungsfrist nicht

Leitsatz des Gerichts:
I. Damit über ein Vorabentscheidungsersuchen seitens des EuGH im beschleunigten Verfahren (Art 105 EuGH-Verfahrensordnung) entschieden werden kann, kommt es im asylrechtlichen Kontext vor allem auf ihre Bedeutung für das Funktionieren des gemeinsamen europäischen Asylsystems an. Die Zahl der betroffenen Antragsteller ist hierfür nicht maßgebend.

II. Wird während eines anhängigen Rechtsbehelfverfahrens gegen eine Dublin-Überstellungsentscheidung deren Durchführung gestützt auf Art 27 Abs 4 Dublin III-VO ausgesetzt, so wird dadurch die Überstellungsfrist iSd Art 29 Abs 1 Dublin III-VO unterbrochen und beginnt erst mit der endgültigen Entscheidung über das Rechtsmittel neu zu laufen.

III. Die oben (II.) benannte Rechtsfolge kann nur eintreten, wenn sich die Aussetzungsentscheidung im Rahmen des Art 27 Abs 4 Dublin III-VO hält, mithin aus Gründen des Rechtsschutzes erfolgt. Eine Aussetzung alleine wegen faktischer Hindernisse (für wenige dieser Art trifft Art 29 Abs 2 Dublin III-VO eine abschließende Regelung) vermag die Überstellungsfrist nicht iSd Art 29 Abs 1 Dublin III-VO zu unterbrechen. Insb kommt es zu keiner Unterbrechung, wenn die Durchführung der Überstellungsentscheidung wegen faktischer Verunmöglichung durch Covid-19 ausgesetzt wird.
- | Online seit - 23.12.2022
2942

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Unionsrechtswidrigkeit der Bindung der Asylbehörde an Stellungnahmen anderer Behörden und übermäßiger Beschränkungen von Parteienrechten

Leitsatz des Gerichts:
I. Art 41 GRC (Recht auf eine gute Verwaltung) ist auf die Asylbehörden der Mitgliedstaaten nicht anwendbar, adressiert er doch nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Wohl aber reflektiert die Garantie einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der auch auf den indirekten Vollzug von Unionsrecht durch mitgliedstaatliche Behörden Anwendung findet.

II. Eine nationale Rechtslage, die zum einen den Zugang zu den für Entscheidungen auf Aberkennung eines Schutzstatus tragenden Gründen, welche Bestandteil von Verschlusssachen sind, nur unter Genehmigungsvorbehalt gewährt und zum anderen keine Mitteilung der Gründe für die Entscheidung über die Genehmigung an den Betroffenen vorsieht und überdies die Verwertung dieser Informationen in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren versagt, ist mit Unionsrechtswidrigkeit behaftet. Konkret widerstreitet sie Art 47 GRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht), Art 41 GRC (Recht auf eine gute Verwaltung) sowie Art 23 Abs 1 iVm Art 45 Abs 4 RL 2013/32/EU, weil dadurch Parteienrechte ebenso wie die Garantie auf gerichtlichen Rechtsschutz unterminiert werden.

III. Die Asylbehörde iSd Art 2 lit f RL 2013/32/EU muss über volle Rechts- und Tatsachenkognition bei der Fällung von Entscheidungen über die Zuerkennung bzw Aberkennung von Asyl oder subsidiärem Schutz verfügen. Eine Bindung an Stellungnahmen anderer Behörden (insb der Sicherheitsbehörden) ist mit der RL 2013/32/EU (VerfahrensRL) nicht vereinbar. Dies schließt freilich die Berücksichtigung von Informationen solcher Behörden durch die Asylbehörde nicht aus.

IV. Art 17 Abs 1 lit b RL 2011/95/EU schließt Antragsteller, die eine "schwere Straftat" begangen haben, von der Zuerkennung subsidiären Schutzes aus. Dass die Asylbehörde von der Begehung der einschlägigen Straftat zum Zeitpunkt der Zuerkennung bereits wusste, verschafft den Antragstellern keinen Vertrauensschutz. Vielmehr greift der Ausschlusstatbestand zu jeder Zeit und verpflichtet die Asylbehörde, in solchen Konstellationen eine Aberkennungsentscheidung folgen zu lassen. Dabei muss die Asylbehörde jedoch eine umfängliche Würdigung der Umstände des Einzelfalls vornehmen.
- | Online seit - 22.12.2022
2940

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Kostenersatz durch Bund für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen

Leitsatz des Gerichts:
I. Einer Klage des Landes Wien gegen den Bund auf Kostenersatz für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen wird stattgegeben, da der Bund die Kosten zu 100 % für subsidiär Schutzberechtigte, über deren Asylstatus nicht binnen zwölf Monaten (rechtskräftig) entschieden wurde, zu tragen hat.

II. Durch das Fremdenrechtspaket 2005 kommt es auf Grund der Beibehaltung des Verfahrensablaufs einschließlich der Umsetzung des Refoulement-Verbotes zu keiner Änderung des Begriffs "Asylwerber" in der Grundversorgungsvereinbarung.
- | Online seit - 21.12.2022
2941

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Die Missachtung einer Ausreiseverpflichtung rechtfertigt nicht per se die Annahme einer Fluchtgefahr

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Tatsache, dass von der fremden Person die Ausreiseverpflichtung über viele Jahre hinweg missachtet wird, rechtfertigt nicht die Annahme des Vorliegens einer Fluchtgefahr, wenn beispielsweise ein gefestigter Wohnsitz vorliegt und sich die fremde Person in der Vergangenheit stets kooperativ verhalten und sich nie einem Verfahren entzogen hat.

II. Die fehlende Ausreisewilligkeit einer fremden Person trotz rechtskräftiger Rückkehrverpflichtung rechtfertigt für sich genommen nicht die Verhängung der Schubhaft. Der aktuelle Sicherungsbedarf hat vielmehr in weiteren Umständen wie etwa in einer mangelnden sozialen Verankerung in Österreich begründet zu sein. Aufgrund dieser Tatsache kann beispielsweise die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens der fremden Person, gerechtfertigt sein.
- | Online seit - 20.12.2022
2939

Judikatursammlung

Missbräuchliche Stellung eines Asylantrags aus wirtschaftlichen Gründen

Leitsatz des Gerichts:
I. Werden keine asylrelevanten Gründe vorgebracht, sondern beruft sich der Beschwerdeführer hauptsächlich darauf, mit seinem in Österreich lebenden Sohn – mit dem er zuletzt vor fünf Jahren Kontakt hatte und für den er nicht obsorgeberechtigt ist – ein Familienleben aufnehmen zu wollen, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass der Asylantrag bloß in der Absicht, die Normen des Asyl- und Fremdenrechts zu umgehen, gestellt wurde.

II. Dass die fremde Person in Österreich allenfalls wirtschaftlich gegenüber ihrer Situation im Herkunftsstaat (hier: Marokko) bessergestellt ist, genügt nicht für die Annahme, es ließe sich im Herkunftsstaat keine Lebensgrundlage aufbauen und damit die Existenz nicht sichern. Für eine derartige Annahme haben jedenfalls Hinweise auf exzeptionelle Umstände vorzuliegen.
- | Online seit - 19.12.2022
2937

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Verweigerung der Rückholung von Frauen und Kindern, die in Nordostsyrien in Lagern für Anhänger*innen des Daesch angehalten werden

Leitsatz des Gerichts:
I. Wenn es dem direkten Opfer einer behaupteten Verletzung der EMRK aufgrund besonderer Umstände unmöglich ist, sich selbst an den EGMR zu wenden, können Dritte auch ohne Vorlage einer Vollmacht die Beschwerde in dessen Namen erheben. Ausschlaggebend sind dabei insb die Verletzlichkeit des Opfers, dessen Verbindungen zur Beschwerde erhebenden Person und das Fehlen eines Interessenkonflikts. Im vorliegenden Fall können die Eltern von in syrischen Lagern angehaltenen Frauen eine sich auf die Weigerung Frankreichs, sie zu repatriieren, beziehende Beschwerde erheben, weil die Frauen sich in einer Situation besonderer Verletzlichkeit befinden, sie ihre Absicht zurückzukehren klar zum Ausdruck gebracht haben, ihnen die Übermittlung einer Vollmacht nicht möglich ist und kein Interessenkonflikt besteht.

II. Die bloße Einleitung eines Verfahrens durch einen Beschwerdeführer in einem Vertragsstaat, zu dem er keine Verbindung hat, kann nicht ausreichen, um die Hoheitsgewalt dieses Staats über ihn zu begründen. Andernfalls würde es zu einer beinahe universellen Geltung der Konvention aufgrund der einseitigen Entscheidungen irgendeiner Person kommen, egal wo auf der Welt sie sich befindet, und damit eine uneingeschränkte Verpflichtung der Vertragsstaaten geschaffen, einer Person die Einreise zu gestatten, der außerhalb ihrer Hoheitsgewalt eine mit der EMRK unvereinbare Misshandlung drohen könnte. Daher kann die Einleitung von Verfahren durch die beschwerdeführenden Eltern vor französischen Gerichten nicht ausreichen, um die Hoheitsgewalt Frankreichs im Hinblick auf ihre Töchter und Enkelkinder zu begründen.

III. Da Frankreich keine Kontrolle über die Lager in Nordostsyrien ausübt und auch sonst keine besonderen Merkmale vorliegen, bringt die bloße Entscheidung der französischen Behörden, die Familienangehörigen der Beschwerdeführer nicht zu repatriieren, diese hinsichtlich der Misshandlung, der sie in den syrischen, von Kurden kontrollierten Lagern ausgesetzt sind, nicht unter die französische Hoheitsgewalt.

IV. Das Recht auf Einreise kann sich nicht auf Personen beschränken, die sich bereits unter der Hoheitsgewalt des Staates der eigenen Staatsbürgerschaft befinden, da es ansonsten seiner Wirksamkeit beraubt würde. Bestimmte Umstände bezüglich der Situation von Personen, die in den Staat einreisen wollen, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, und sich dabei auf Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK berufen, können eine im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung zu diesem Staat begründen.

V. Im vorliegenden Fall liegen derartige Umstände im Hinblick auf die in Lagern in Nordostsyrien festgehaltenen Töchter und Enkelkinder der beschwerdeführenden Eltern vor: Sie wandten sich wiederholt mit der Bitte um Repatriierung an die französischen Behörden; die Lebensbedingungen in den Lagern sind mit der Menschenwürde unvereinbar und die Betroffenen befinden sich dort in einer Situation extremer Verwundbarkeit; die betroffenen Personen sind wegen der Art und der Dauer ihrer Anhaltung ohne die Unterstützung der französischen Behörden nicht in der Lage, die Lager zu verlassen, um nach Frankreich zurückzukehren; die kurdischen Behörden erklärten ihre Bereitschaft, die weiblichen Gefangenen französischer Staatsangehörigkeit und ihre Kinder an die französischen Behörden zu übergeben.

VI. Auch informelle oder indirekte Maßnahmen, die dem Staatsangehörigen de facto den effektiven Genuss seines Rechts auf Rückkehr entziehen, können unter bestimmten Umständen mit dieser Bestimmung unvereinbar sein. Aus ihr können sich folglich auch positive Verpflichtungen der Behörden ergeben.

VII. Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, ihre Staatsangehörigen zu repatriieren. Französische Staatsbürger*innen, die in den Lagern im Nordosten Syriens angehalten werden, können daher kein generelles Recht auf Repatriierung auf der Grundlage des Rechts auf Einreise in das Staatsgebiet nach Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK geltend machen.

VIII. Allerdings kann Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK dem Staat eine positive Verpflichtung auferlegen, wenn seine Weigerung, aktiv zu werden, unter den konkreten Umständen eines Falls den betroffenen Staatsangehörigen in einer Situation belassen würde, die de facto mit jener der Verbannung vergleichbar wäre. Dies wird allerdings nur unter außergewöhnlichen Umständen der Fall sein.

VIII. Eine Entscheidung über die Repatriierung von im Ausland festgehaltenen Staatsangehörigen muss frei von Willkür getroffen werden. Daher muss der Entscheidungsfindungsprozess von ausreichenden Verfahrensgarantien begleitet sein, die eine Vermeidung jeglicher Willkür gewährleisten. Die Ablehnung eines Ersuchens um Repatriierung muss daher von einem unabhängigen Spruchkörper überprüft werden können. Dabei muss es sich nicht zwingend um ein Gericht handeln.
- | Online seit - 16.12.2022
2935

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Unzuständigkeit der LPD für Visaanträge, die nicht eindeutig solchen gemäß § 5 Abs 1 Z 2 FPG entsprechen

Leitsatz des Gerichts:
I. Die LPD, die für Anträge auf Verlängerung von Visa D idR unzuständig ist (§ 5 FPG), muss derartige Verlängerungsanträge nicht als Anträge auf Visa D aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen (§§ 20 Abs 1 Z 8, 22a FPG) deuten. Dies gilt gerade dann nicht, wenn der oder die Einschreiter*in sich nicht auf § 22a FPG beruft, entgegen dieser Bestimmung zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt ist und obendrein anwaltlich vertreten ist, sodass die Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG nicht greift. Die LPD hat solche Anbringen sohin – nach einem fruchtlosen Vorgehen gemäß § 6 Abs 1 AVG, also wenn der oder die Einschreiter*in auf ihre Zuständigkeit beharrt – wegen Unzuständigkeit zurückzuweisen.

II. § 11a Abs 2 FPG (Verbot der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG) gilt auch in Visaangelegenheiten vor der LPD und – entgegen der Normüberschrift – nicht nur jenen vor Vertretungsbehörden.
- | Online seit - 15.12.2022