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Judikatursammlung

Leukämie als Rückkehrhindernis (Georgien)

Leitsatz des Gerichts:
I. Mit Blick auf Krankheiten führen Abschiebungen nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zu einer Verletzung von Art 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben; aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.

II. In Georgien bestehen zwar an sich eine stabile Sicherheitslage und ein intaktes Gesundheitssystem und ist in aller Regel nicht von einer aussichtslosen Lage für Rückkehrer auszugehen. Allerdings steht für Leukämiepatienten eine notwendige allogene Knochenmark- bzw Stammzellentransplantation nicht zur Verfügung. Da eine Rückkehr für Personen, die diese Therapie dringend benötigen, die Gefahr des Todes bedeuten würde, ist ihnen jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren.
- | Online seit - 06.11.2023
3160

Judikatursammlung

Westlich orientierte Frau aus Bangladesch

Leitsatz des Gerichts:
I. In der streng von islamisch-konservativen Werten geprägten Gesellschaft Bangladeschs besteht keine generelle Verfolgung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts.

II. Wohl aber laufen Frauen, die sich mit ihrer Lebensführung (Selbstbestimmung hinsichtlich Berufs- und Partnerwahl, westlicher Lebenswandel) in Widerspruch zu den tradierten Werten setzen, Gefahr, aufgrund einer unterstellten religiösen oder politischen Gesinnung (Verfolgungsgrund) Misshandlungen ausgesetzt zu sein (Verfolgungshandlungen). Effektive Schutzmaßnahmen des Staates bestehen nicht, sodass Frauen aus Bangladesch mit den genannten Eigenschaften der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist.
- | Online seit - 03.11.2023
3158

Judikatursammlung

Zur Beurteilung einer (potenziellen) ordre public-Widrigkeit von Kinderehen

Leitsatz des Gerichts:
I. Es ist verfehlt, etwa allein aufgrund des Alters im Zeitpunkt der Eheschließung (hier: 14 Jahre alte Ehefrau), von vornherein eine ordre public-widrige Ehe anzunehmen. Vielmehr sind zuerst Ermittlungen zu den maßgeblichen Bestimmungen des jeweiligen (hier: syrischen) Eherechts vorzunehmen, um die Rechtsgültigkeit der Ehe festzustellen.

II. Handelt es sich um eine rechtsgültig zustande gekommene Ehe (hier: nach dem syrischen Eherecht), so ist in der Folge unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Rsp eine allfällige ordre public-Widrigkeit der Ehe zu klären.

III. Bei der Beurteilung, ob eine gegen den ordre public-Grundsatz verstoßende Kinderehe vorliegt, ist zu prüfen, ob die Entscheidung über die Eheschließung ohne Einschränkung der Willensfreiheit erfolgte. Maßgeblich ist hierbei, dass die Ehe selbstbestimmt und ohne Zwang eingegangen wurde und die Heirat mit keinen Bedingungen verknüpft war. Auch die Wahrung des Kindeswohls, der Persönlichkeitsrechte von minderjährigen Personen und der Schutz vor Ausbeutung und unzulässigen Verpflichtungen müssen in der Beurteilung beachtet werden.
- | Online seit - 02.11.2023
3157

Judikatursammlung

Anhaltung minderjähriger Kinder mit ihrer Mutter in Schubhaft ohne ausreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht

Leitsatz des Gerichts:
I. Jede Freiheitsentziehung muss rechtmäßig sein, also eine Grundlage im nationalen Recht haben und dieser entsprechen. Zudem darf eine Freiheitsentziehung nicht willkürlich sein. Sie muss daher in gutem Glauben erfolgen und in engem Zusammenhang zum verfolgten Ziel stehen. Außerdem darf ihre Dauer nicht das Maß des unbedingt Notwendigen überschreiten.

II. Die Anhaltung Minderjähriger mit ihrer Mutter in Schubhaft ohne einer eigenen, sich auf die Kinder beziehenden Entscheidung ist unvereinbar mit Art 5 Abs 1 EMRK. Es reicht nicht aus, wenn die Behörden in der Anordnung der Schubhaft lediglich erwähnen, dass die Mutter von ihren Kindern begleitet wird, ohne dass diese Gegenstand der Entscheidung sind.

III. Die Anhaltung von Kindern, die ihre Eltern in die Schubhaft begleiten, ist nur dann mit Art 5 Abs 1 lit f EMRK vereinbar, wenn keine gelinderen Mittel zur Verfügung stehen.

IV. Die Anhaltung junger Kinder unter Bedingungen, die für sie nicht angemessen sind, verletzt Art 5 Abs 1 EMRK. Dabei ist unerheblich, ob die Kinder von ihren Eltern begleitet werden.
- | Online seit - 31.10.2023
3159

Judikatursammlung

Rückkehrsituation alleinstehender Frauen in Indien

Leitsatz des Gerichts:
I. Von privaten Akteuren ausgehende Drohungen gegen indische Frauen, die gesellschaftlich tradierten Werten zuwidergehandelt haben, sind auf keinen asylrelevanten Verfolgungsgrund zurückzuführen, auch nicht auf jenen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, zumal der indische Rechtsstaat nicht generell schutzunfähig oder schutzunwillig ist.

II. Alleinstehende indische Frauen ohne familiäre Anknüpfungspunkte haben in Indien eine so schlechte Rückkehrperspektive (kein gesichertes Existenzminimum, Gefahr sexueller Übergriffe und eine dagegen nicht hinreichend effektive Justiz), dass die Schwelle des Art 3 EMRK überschritten ist. Ihnen gebührt folglich subsidiärer Schutz.
- | Online seit - 30.10.2023
3163

Judikatursammlung

Nicht zu beanstandende Interessenabwägung iZm Überschreiten der erlaubten Aufenthaltsdauer

Leitsatz des Gerichts:
I. § 11 Abs 1 Z 5 NAG enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Versagungsgrund nur bei schuldhaftem Verhalten erfüllt wäre.

II. Nach stRsp ist die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK im Allgemeinen
- wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rsp entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel iSd Art 133 Abs 4 B-VG.
- | Online seit - 27.10.2023
3162

Judikatursammlung

Einreiseverbot versus Aufenthaltstitel

Leitsatz des Gerichts:
I. Einreisevoraussetzungen nach Art 6 Abs 1 lit a, c und e SGK sind im Wesentlichen der Besitz eines gültigen Reisedokuments und ausreichender Mittel sowie die Prognose, dass von dem Drittausländer keine Gefahr ua für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit ausgeht und der Drittausländer auch nicht aus denselben Gründen in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist.

II. Das Vorliegen der Voraussetzung gemäß Art 6 Abs 1 lit d SGK ist hingegen nach Art 21 Abs 1 SDÜ für den Reiseverkehr von Drittausländern nicht erforderlich.
- | Online seit - 25.10.2023
3161

Judikatursammlung

Zu lange Zeitspanne zwischen mündlich verkündeter Entscheidung und deren schriftlicher Ausfertigung (II)

Leitsatz des Gerichts:
Die Beschwerdeführerin wird mangels zeitnaher schriftlicher Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt.
- | Online seit - 24.10.2023
3156

Judikatursammlung

Widerruf der Aufenthaltsbewilligung einer aus den USA stammenden Menschenrechtsaktivistin, die mit einem Russen verheiratet ist und seit zwölf Jahren in Moskau lebte

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Mitgliedstaaten der EMRK sind zur Kooperation mit dem EGMR verpflichtet. Ein Versäumnis, vom EGMR angeforderte Unterlagen vorzulegen, begründet eine Verletzung von Art 38 EMRK.

II. Die Ausweisung eines Familienmitglieds kann einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens begründen. Ein solcher Eingriff in die durch Art 8 EMRK geschützten Rechte erfordert zunächst eine gesetzliche Grundlage, die auch ausreichenden Schutz gegen Willkür und Missbrauch durch die Behörden bietet.

III. Interessen der nationalen Sicherheit können den Widerruf eines Aufenthaltstitels rechtfertigen. Auch wenn es um die nationale Sicherheit geht, verlangen die Rechtmäßigkeit und die Rechtsstaatlichkeit, dass Maßnahmen, die sich auf die Menschenrechte auswirken, einem zweiseitigen Verfahren vor einem unabhängigen Spruchkörper unterworfen sind, in dem die Gründe für die Entscheidung und die relevanten Beweise überprüft werden. Falls nötig kann dabei die Verwendung von als geheim klassifizierten Informationen eingeschränkt werden. Es ist jedoch mit Art 8 EMRK unvereinbar, wenn ein Aufenthaltstitel unter Verweis auf einen Geheimdienstbericht widerrufen wird, ohne dass die betroffene Person je erfährt, warum sie als Gefährdung der nationalen Sicherheit betrachtet wird.

IV. Es verstößt gegen Art 18 EMRK, wenn einer Menschenrechtsaktivistin der Aufenthaltstitel entzogen und sie ausgewiesen wird und diese Maßnahme tatsächlich nicht wie von den Behörden behauptet dem Schutz der nationalen Sicherheit dient, sondern der Sanktionierung für die dem Staat unliebsamen Aktivitäten.
- | Online seit - 23.10.2023
3155

Judikatursammlung

Unzureichende Ermittlungen zur Klärung der Ursachen für ein tödliches Feuer in Polizeistation, bei dem drei Migranten starben

Leitsatz des Gerichts:
I. Da sich Personen in Haft in einer besonders verletzlichen Situation befinden, trifft die Behörden eine Verpflichtung, sich um sie zu kümmern. Stirbt eine Person unter ungeklärten Umständen in Haft, wirft dies die Frage auf, ob der Staat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, das Recht auf Leben dieser Person zu schützen. Allerdings darf diese Verpflichtung nicht so ausgelegt werden, dass den Behörden eine unverhältnismäßige oder nicht zu erfüllende Bürde auferlegt wird. Nicht jede behauptete Lebensgefahr kann daher das Ergreifen operativer Maßnahmen zur Verhinderung ihres Eintretens erfordern.

II. Eine positive Verpflichtung zum Schutz des Lebens besteht, wenn die Behörden vom Bestehen einer realen und unmittelbaren Lebensgefahr wissen oder wissen müssten. Doch selbst wenn keine solchen Informationen vorliegen, müssen Polizisten und Strafvollzugsbeamte gewisse grundlegende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um ein mögliches Risiko für die Gesundheit und das Wohlergehen von inhaftierten Personen zu gewährleisten. Dies verlangt insb eine gründliche Personendurchsuchung vor der Verbringung in eine Zelle, bei der gefährliche Gegenstände wie Feuerzeuge abgenommen werden müssen.

III. Eine Verletzung der positiven Verpflichtungen, das Recht auf Leben inhaftierter Personen zu schützen, kann sich auch aus unzureichenden baulichen, technischen und organisatorischen Brandschutzvorkehrungen ergeben.

IV. Wenn eine Person unter Umständen stirbt, die möglicherweise eine Verantwortlichkeit des Staates begründen, muss der Staat eine angemessene Untersuchung durchführen. Die Untersuchungsbehörden müssen unabhängig sein und ein rasches, sorgfältiges und effizientes Verfahren durchführen. Im Zuge der Ermittlungen müssen über die persönliche Verantwortung einzelner Beamter auch mögliche strukturelle oder institutionelle Versäumnisse geklärt werden.
- | Online seit - 20.10.2023
3154

Judikatursammlung

Studentenverfahren: Reihe von Verfahrensfehlern

Leitsatz des Gerichts:
I. Das LVwG verletzt seine Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung der materiellen Wahrheit, wenn es allein aus den vorgelegten Kontoauszügen auf das Fehlen hinreichender Unterhaltsmittel iSd § 11 Abs 2 Z 4 iVm Abs 5 NAG schließt und jegliche sonstigen Ermittlungen über Einkünfte bzw Vermögen unterlässt.

II. Die Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG verlangt zwar keine Beratung einer Verfahrenspartei in materiell-rechtlicher Hinsicht, wohl aber sind die zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nötigen Anleitungen zu geben - dies insb einer unvertretenen Partei gegenüber.

III. Das LVwG verletzt - indem es die Antragsabweisung erstmals auf die (angenommene) Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs 2 Z 4 NAG stützt, wohingegen die Behörde die Abweisung noch auf das Nichtvorliegen einer besonderen Erteilungsvoraussetzung (Fehlen eines entsprechenden Studienerfolgsnachweises) gegründet hat - das Überraschungsverbot und das mit diesem in Beziehung stehende Recht auf Parteiengehör.

IV. Die Niederlassungsbehörde hat bei der Behandlung von Verlängerungsanträgen beim Fehlen allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 1 und 2 NAG nach dem Prozedere gemäß § 25 Abs 1 NAG vorzugehen - somit nach Einräumen von Parteiengehör insb das BFA zu verständigen und dessen Verfahren abzuwarten - und nicht etwa den an sie gerichteten Antrag selbst meritorisch durch Abweisung zu erledigen. Dieses Vorgehen ist auch vom LVwG einzuhalten, vermag doch der Umstand allein, dass erst das LVwG vom Fehlen einer allgemeinen Erteilungsvoraussetzung ausgeht, an der Maßgeblichkeit des § 25 NAG nichts zu ändern.
- | Online seit - 19.10.2023
3153

Judikatursammlung

Fragen zum Investitionskapital iSv § 24 Abs 1 AuslBG

Leitsatz des Gerichts:
I. Im Mittelpunkt der nach § 24 Abs 1 AuslBG zu treffenden Einschätzung steht die Frage, ob durch die selbstständige Tätigkeit des Fremden ein zusätzlicher Impuls für die Wirtschaft zu erwarten ist, dem ein gesamtwirtschaftlicher Nutzen oder zumindest eine Bedeutung für eine Region beizumessen ist.

II. Es entspricht der stRsp des VwGH, dass Investitionen, die in ein Unternehmen erfolgen, für sich noch nicht ausreichend sind, um einen Transfer von Investitionskapital iSv § 24 Abs 1 AuslBG darstellen zu können. Für die Bejahung eines derartigen Kapitaltransfers ist es erforderlich, dass es sich bei dem in Rede stehenden Kapital um vom Antragsteller vom Ausland aus nach Österreich transferierte Gelder handelt oder (wenn ein Darlehen in Rede steht) dass das aus einem Darlehen resultierende Rückzahlungsaufkommen aus vom Ausland nach Österreich transferierten Geldern stammt. Ein Darlehen eines ausländischen Geldgebers stellt keinen Transfer von Investitionskapital dar, wenn die Geldmittel zum Zweck der Darlehensrückzahlung wieder ins Ausland abfließen und nicht nachgewiesen wurde, dass die Rückzahlung durch Mittel erfolgte, die aus dem Ausland nach Österreich transferiert wurden.

III. Der Umstand, dass ein aus dem Ausland importiertes Kapital bereits zuvor vorübergehend im Inland anderweitig (uU teils als Gesellschafterdarlehen sowie teils in Form der Einzahlung von Stammkapital) investiert worden ist, schließt nicht zwingend aus, dass die Geldmittel - stets unter der Voraussetzung, dass sie tatsächlich ursprünglich aus dem Ausland ins Inland transferiert worden waren - als aus vom Ausland nach Österreich importiertes Kapital iSv § 24 Abs 1 AuslBG zu qualifizieren sind.

IV. Die Rsp des VwGH, der zufolge durch die Einzahlung von Stammkapital allein noch kein Transfer von Investitionskapital iSd § 24 AuslBG nachgewiesen werden könne, bezieht sich auf die Einzahlung von Stammkapital, welche nicht als Transfer von Investitionskapital zu betrachten ist. Damit ist aber keine Aussage über die Qualifikation von Geldmitteln verbunden, die zwischenzeitig als Stammkapital in einer Gesellschaft gebunden waren und deren (Re-)Investition im Rahmen einer beabsichtigten selbstständigen Erwerbstätigkeit geplant ist.

V. Die zwischenzeitige Investition von Investitionskapital in eine inländische Gesellschaft steht nicht notwendigerweise der Annahme entgegen, dass die betreffenden Geldmittel vom Ausland nach Österreich transferiert wurden und nach ihrem "Freiwerden" gemäß § 24 Abs 1 AuslBG investiert werden könnten.
- | Online seit - 18.10.2023
3152

Judikatursammlung

Anspruch auf Kinderbeihilfe erst nach Gewährung der rechtmäßigen Niederlassung

Leitsatz des Gerichts:
I. Art 1 1. ZPEMRK gewährt keinen Anspruch auf eine Sozialleistung. Wenn aber ein Mitgliedstaat gesetzlich einen Anspruch auf eine Sozialleistung vorsieht, schafft dieses Gesetz für Personen, die seine Voraussetzungen erfüllen, ein vermögenswertes Interesse, das in den Geltungsbereich von Art 1 1. ZPEMRK fällt, und es muss mit Art 14 EMRK vereinbar sein. Dies gilt auch für einen gesetzlichen Anspruch auf eine Kinderbeihilfe, der für jene Personen, von denen die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt werden, ein in den Geltungsbereich von Art 1 1. ZPEMRK fallendes vermögenswertes Interesse schafft.

II. Der Niederlassungs- bzw Einwanderungsstatus ist als "im sonstigen Status" iSv Art 14 EMRK anzusehen.

III. Die Mitgliedstaaten der EMRK können nicht nur die Niederlassung, sondern auch eine vorgeschriebene Dauer der Niederlassung verlangen, bevor sie jenen, die ein Recht auf sozialrechtliche Gleichbehandlung haben, beitragsunabhängige Leistungen gewähren.

IV. Der Ausschluss von Personen, denen noch nicht die Niederlassung gewährt wurde, vom Bezug einer beitragsunabhängigen Sozialleistung ist eine notwendige Konsequenz des im Wesentlichen nationalen Charakters der Systeme der nationalen Sicherheit. Die Situation von Personen, über deren persönlichen Einwanderungsstatus noch nicht entschieden wurde, kann im Hinblick auf den Bezug von Sozialleistungen nicht mit jener von Personen verglichen werden, die bereits über den Status der rechtmäßigen Niederlassung verfügen. Daher stellt ihr Ausschluss vom Bezug von Kinderbeihilfe keine Diskriminierung iSv Art 14 EMRK dar.
- | Online seit - 17.10.2023
3151

Judikatursammlung

Zum vorübergehenden Aufenthaltsrecht für Familienangehörige von ukrainischen Staatsbürgern

Leitsatz des Gerichts:
I. Der von dem Ehepartner/der Ehepartnerin abgeleitete Vertriebenenstatus iSd VertriebenenVO kann einer Person nur zuerkannt werden, wenn sich der Ehepartner bzw die Ehepartnerin ebenfalls in Österreich aufhält. Damit sollen die Ziele des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/38 – Wahrung des Familienverbands und Vermeidung unterschiedlicher Rechtsstellung von Familienmitgliedern – erreicht werden.

II. Familienangehörigen kommt gemäß § 1 Z 3 iVm § 2 VertriebenenVO nach ihrer Einreise in Österreich ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu. Dem Ehepartner bzw der Ehepartnerin von ukrainischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in der Ukraine ist dieses vorübergehende Aufenthaltsrecht zu gewähren, wenn der/die ukrainische Staatsangehörige aufgrund des bewaffneten Konfliktes ab dem 24.2.2022 aus der Ukraine vertrieben worden ist.
- | Online seit - 16.10.2023
3149

Judikatursammlung

Anhaltung von Migranten im Hotspot Lampedusa unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Grundlage im italienischen Recht

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Schwierigkeiten, die sich vor allem für die Staaten an den Außengrenzen der EU
aus dem erhöhten Zustrom von Migrant*innen und Asylwerber*innen ergeben, können die Mitgliedstaaten des Europarats angesichts des absoluten Charakters von Art 3 EMRK nicht von ihren aus dieser Bestimmung erwachsenden Verpflichtungen befreien.

II. Aufgrund der materiellen Bedingungen, die 2017 im "Hotspot" von Lampedusa herrschten und unter anderem vom CPT dokumentiert wurden, stellte die zehntägige Anhaltung der Beschwerdeführer in diesem Anhaltezentrum eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.

III. Die zweite Alternative in Art 5 Abs 1 lit f EMRK (Anhaltung einer Person, "gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist") verlangt nicht zusätzlich, dass die Freiheitsentziehung als notwendig erachtet werden kann.

IV. Die erste Alternative in Art 5 Abs 1 lit f EMRK ("rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise"), die eine Anhaltung von Asylwerber*innen und anderen Migrant*innen erlaubt, bevor ihnen der Staat die Einreise gewährt, impliziert, dass das von Art 5 EMRK stets geforderte "Fehlen von Willkür" bedeutet, dass eine solche Anhaltung in gutem Glauben erfolgen muss, eng mit dem Zweck der Verhinderung der unerlaubten Einreise dieser Person verbunden zu sein hat und Ort und Bedingungen der Freiheitsentziehung angemessen sein müssen.

V. Wenn die Einreise verweigert wurde, kann jede Freiheitsentziehung nach der zweiten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK nur solange gerechtfertigt sein, wie das Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist. Wenn ein solches Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben wird, ist die Freiheitsentziehung nicht länger nach Art 5 Abs 1 lit f EMRK rechtmäßig.

VI. Angesichts des im Hinblick auf 2017 festzustellenden Fehlens einer klaren und zugänglichen Rechtsgrundlage im italienischen Recht für die Anhaltung von Migrant*innen, denen die Einreise verweigert wurde, in "Hotspots", war diese nicht mit Art 5 EMRK vereinbar.

VII. Unter einer Kollektivausweisung iSv Art 4 4. ZPEMRK ist jede Maßnahme zu verstehen, die Fremde als Gruppe zum Verlassen des Landes zwingt, ohne dass diese Maßnahme nach einer "vernünftigen und sachlichen Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe" getroffen wird. Die Abschiebung einer Gruppe von Tunesiern nach Aushändigung einer standardisierten Entscheidung und ohne vorheriger Befragung stellte eine gegen Art 4 4. ZPEMRK verstoßende Kollektivausweisung dar.
- | Online seit - 13.10.2023
3150

Judikatursammlung

Verweigerung der Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen seit mehr als 50 Jahren aufhältigen Iraner wegen einer vor rund 20 Jahren ausgesprochenen, aber nie durchgesetzten Ausweisung

Leitsatz des Gerichts:
I. Wenn ein Staat die Anwesenheit eines Ausländers auf seinem Hoheitsgebiet duldet und ihm damit die Möglichkeit gibt, die Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung oder einen Rechtsbehelf abzuwarten, ermöglicht er ihm, am gesellschaftlichen Leben des Landes teilzunehmen, Beziehungen aufzubauen und eine Familie zu gründen. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass nach Art 8 EMRK die Behörden dieses Staates verpflichtet wären, dem Ausländer zu erlauben, sich im Land niederzulassen.

II. Wenn ein Fremder sein Privatleben im Hoheitsgebiet eines Staats aufbaut, obwohl er sich dort illegal aufhält, stellt die spätere Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung nur unter außergewöhnlichen Umständen eine Verletzung von Art 8 EMRK dar.

III. Der Umfang der positiven Verpflichtung eines Staates, eine ausländische Person auf seinem Hoheitsgebiet zuzulassen, hängt von der besonderen Situation dieser Person und dem Gemeinwohl ab.

IV. Bei der Verweigerung eines Aufenthaltstitels für einen Fremden, der sich seit mehr als 50 Jahren in diesem Staat aufhält und hier beruflich, privat und familiär integriert ist, darf einer vor rund 20 Jahren ausgesprochenen, aber nie durchgesetzten Ausweisung nicht das alleine entscheidende Gewicht beigemessen werden. Vielmehr muss eine sorgfältige Abwägung unter Berücksichtigung der Gesamtdauer des Aufenthalts, der ursprünglichen Rechtmäßigkeit desselben und der unzureichenden Bemühungen der Behörden um Durchsetzung der Ausweisung erfolgen.
- | Online seit - 12.10.2023
3148

Judikatursammlung

Ausweisung wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Geheimdienst seines Heimatlands, ohne ihm im Verfahren Zugang zu klassifizierten Dokumenten zu gewähren

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Beschwerde über die Verwehrung ausreichender prozessualer Garantien im Verfahren über eine Ausweisung wird vom EGMR ausschließlich unter Art 1 7. ZPEMRK geprüft, auch wenn sich der Beschwerdeführer auf Art 6 und Art 13 EMRK stützt.

II. Ein von einer Ausweisung betroffener Fremder muss gemäß Art 1 7. ZPEMRK über die Gründe informiert werden, auf die sich die Einschätzung der Behörden stützt, er würde die nationale Sicherheit gefährden. Er muss auch Zugang zu den Dokumenten erhalten, auf die sich die Behörden dabei stützen.

III. Der eingeschränkte Zugang zu solchen Dokumenten und Informationen kann unter den besonderen Umständen des Falls gerechtfertigt sein. Mit Art 1 7. ZPEMRK sind jedoch nur Einschränkungen der Verfahrensrechte vereinbar, die angemessen gerechtfertigt sind und durch ausreichende ausgleichende Faktoren kompensiert werden. Je stärker der Zugang zu den Informationen eingeschränkt wird, desto wichtiger sind die ausgleichenden Faktoren. Was genau zum Ausgleich geboten ist, hängt von den konkreten Umständen ab. Der EGMR beurteilt, ob das Verfahren insgesamt betrachtet so gestaltet war, dass der Wesenskern der durch Art 1 7. ZPEMRK garantierten Rechte gewahrt wurde. Der betroffene Fremde muss jedenfalls in der Lage sein, Gründe gegen seine Ausweisung vorzubringen, und diese darf nicht willkürlich sein.

IV. Eine Ausweisung unter Verweis auf Gründe der nationalen Sicherheit, ohne der betroffenen Person nähere Informationen über die ihr vorgeworfenen Handlungen zu geben oder ihr Zugang zu den relevanten Dokumenten zu gewähren, stellt eine massive Beschränkung ihrer Verfahrensrechte dar, die durch entsprechend starke Faktoren ausgeglichen werden muss.

V. Eine anwaltliche Vertretung kann die mit der Verweigerung des Zugangs zu relevanten Aktenbestandteilen verbundene Einschränkung der Verteidigungsrechte nicht ausgleichen, wenn der Anwalt selbst mangels der erforderlichen Sicherheitsfreigabe ebenfalls keinen Zugang zu den Dokumenten erhält und die betroffene Person auch nicht darüber aufgeklärt wird, wen sie beauftragen oder wie sie sonst einen Zugang zu den Akten erhalten könnte.
- | Online seit - 11.10.2023
3147

Judikatursammlung

Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat als jenem des Daueraufenthaltsrechts

Leitsatz des Gerichts:
I. Das Aufenthaltsrecht von in einem (ersten) Mitgliedstaat die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten genießenden Drittstaatsangehörigen in einem (zweiten) Mitgliedstaat ist lediglich derivativen Charakters und folglich vom Fortbestand der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat abhängig. Dementsprechend darf bzw sogar muss der zweite Mitgliedstaat bei der Verlängerung von Aufenthaltstiteln iSd Art 14 ff RL 2003/109/EG das Fortbestehen des zugrunde liegenden Daueraufenthaltsrechts im ersten Mitgliedstaat prüfen.

II. Beurteilungszeitpunkt für das Fortbestehen der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat ist der Zeitpunkt der Antragstellung im zweiten Mitgliedstaat.

III. Zum Verlust der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten kann es insb nach einer sechsjährigen Abwesenheit im ersten Mitgliedstaat kommen (Art 9 Abs 4 UAbs 2 RL 2003/109/EG). Bereits kurzfristige, "wenige Tage nicht überschreitende", Aufenthalte im ersten Mitgliedstaat unterbrechen die genannte Frist.

IV. Die Beweislast für das Fortbestehen der Rechtsstellung trägt der Antragsteller. Der zweite Mitgliedstaat hat ihn zur Vorlage von Beweismitteln insb im Hinblick auf dessen Aufenthalte im ersten Mitgliedstaat aufzufordern. Ferner muss der zweite Mitgliedstaat prüfen, ob der erste Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht von der Sechs-Jahres-Frist gemäß Art 9 Abs 4 UAbs 3 RL 2003/109/EG suspendiert hat. Der zweite Mitgliedstaat muss mit dem ersten die Zusammenarbeit suchen (vgl Art 4 Abs 3 EUV).

V. Der zweite Mitgliedstaat darf die Verlängerung des abgeleiteten Aufenthaltstitels iSd Art 14 ff RL 2003/109/EG nicht mit der Begründung des Nachweises fehlenden Wohnraums verweigern, sofern er in seinem nationalen Recht nicht hinreichend klar die diesbezügliche Ermächtigung des Art 15 Abs 4 UAbs 2 RL 2003/109/EG genutzt hat.
- | Online seit - 10.10.2023
3146

Judikatursammlung

Asylverfahren in Ungarn auf Grund eines pandemischen Notstands erst nach Gang zur Botschaft in Belgrad oder Kiew

Leitsatz des Gerichts:
I. In Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH (Art 258 ff AEUV) ist die Kognition des Gerichtshofs auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Abgabe einer Stellungnahme des belangten Mitgliedstaats beschränkt.

II. Aus Art 6 RL 2013/32/EU ergibt sich, dass jeder Drittstaatsangehörige sowohl innerhalb eines Mitgliedstaates (auch nach illegaler Einreise) als auch an der Grenze einen Asylantrag stellen können muss, ohne dass dies von einer Verwaltungsformalität abhängig gemacht werden darf.

III. Ein Abweichen von Art 6 RL 2013/32/EU kann nicht mit dem Schutz der Gesundheit zum Zeitpunkt einer Pandemie gerechtfertigt werden, weil die Eignung des Vereitelns des Zugangs zum Asylverfahren für den Gesundheitsschutz nicht ersichtlich ist und es gelindere Mittel gibt.

IV. Für einen Mitgliedstaat, der eine unionsrechtliche Verpflichtung in seinem nationalen Recht zu suspendieren sucht, genügt es auf Rechtfertigungsebene nicht, sich unsubstantiiert auf Art 72 AEUV zu berufen.
- | Online seit - 09.10.2023
3144

Judikatursammlung

Prüfung, ob Schutz durch UNRWA besteht

Leitsatz des Gerichts:
I. Voraussetzungen für den "ipso facto-Schutz" der Status-RL sind lediglich die Stellung eines Asylantrags sowie die Prüfung durch die Asylbehörden, ob der Beistand von UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen wurde, dieser nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Art 12 Abs 1 lit b oder Abs 2 und 3 der RL 2011/95/EU vorliegt.

II. Für die Frage der Zuerkennung des "ipso facto-Schutzes" ist weiter maßgeblich, ob der Schutz bzw Beistand von UNRWA als weggefallen iSd RL 2011/95/EU anzusehen ist.
- | Online seit - 06.10.2023