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3132

Judikatursammlung

Mitteilungspflicht in § 20 Abs 4 NAG auch vor (und nach) den COVID-19-Sonderregelungen nur relativ

Leitsatz des Gerichts:
I. Zur vorherigen Mitteilung an die Behörde iSd § 20 Abs 4 zweiter Satz NAG in der bis zum Inkrafttreten der Novelle BGBl I 110/2021 - und aktuell wieder ab 30.9.2023 - geltenden Fassung ist festzuhalten, dass diese, soll der Zweck des zweiten Satzes des § 20 Abs 4 NAG (Schaffung einer - wie in Art 9 Abs 2 der RL 2003/109/EG vorgesehen - günstigeren Norm für langfristig Aufenthaltsberechtigte durch die Einräumung der Möglichkeit zur Geltendmachung berücksichtigungswürdiger Gründe) nicht partiell leerlaufen, nur unter der Voraussetzung als erforderlich erachtet werden kann, dass dem Fremden (insb mit Rücksicht auf die von ihm geltend gemachten Abwesenheitsgründe) eine rechtzeitige Mitteilung überhaupt möglich ist. Nur wenn ihm eine solche Mitteilung möglich gewesen wäre, kann sein Daueraufenthalt ex lege erlöschen.

II. Dafür, dass ungeachtet eines allfälligen Hindernisses, das dem Fremden die vorherige Mitteilung von besonders berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erlaubt, eine rechtzeitige Mitteilung an die Behörde dennoch ausnahmslos notwendig wäre, um das Erlöschen eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" bei mehr als zwölfmonatiger, aber nicht länger als 24-monatiger Abwesenheitsdauer zu verhindern, bieten auch die Materialien zu § 20 Abs 4 NAG in der vor der Novelle BGBl I 110/2021 geltenden Fassung keinerlei Anhaltspunkte (vgl RV 952 BlgNR 22. GP 129).

III. Mit der Novelle BGBl I 110/2021 entfiel vorübergehend das Mitteilungserfordernis in § 20 Abs 4 zweiter Satz NAG aufgrund der weltweiten Krisensituation in Zeiten der COVID-19-Pandemie generell (also auch dann, wenn ihr im Einzelfall entsprochen werden könnte).

IV. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie herrschten von deren Beginn im Jahr 2020 an bis Ende Juni 2021 in zumindest ebenso gravierender Weise vor wie in der Zeit ab Inkrafttreten der Novelle BGBl I 110/2021 mit 1.7.2021 (entsprechend der aktuellen Befristung bis 30.9.2023).
- | Online seit - 19.09.2023
3125

Judikatursammlung

Abschiebung vor dem Ergehen der gerichtlichen Entscheidung betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung im Asylverfahren unzulässig

Leitsatz des Gerichts:
I. Wurde gegen eine erlassene Rückkehrentscheidung Beschwerde eingebracht, so ist die Beschwerdevorlage an das BVwG als fristauslösender Zeitpunkt (vgl § 16 Abs 4 BFA-VG) anzusehen. Ist bei Ablauf der Frist gemäß § 16 Abs 4 BFA-VG noch keine Entscheidung über die aufschiebende Wirkung ergangen, so verlängert sich die gesetzlich angeordnete Wartepflicht bis zur tatsächlichen Entscheidung des BVwG über die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und sind die Wirkungen der Rückkehrentscheidung jedenfalls bis dahin ausgesetzt.

II. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist davon auszugehen, dass sich die gesetzlich angeordnete Wartepflicht (Art 46 Abs 5, 6 und 8 RL 2013/32/EU) bis zur tatsächlichen gerichtlichen Entscheidung des BVwG über die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung verlängert. Die österreichische Rechtslage betreffend § 16 Abs 4 BFA-VG erweist sich in diesem Zusammenhang als unionsrechtswidrig und ist daher nicht anzuwenden.
- | Online seit - 18.09.2023
3133

Judikatursammlung

Automatische Zulässigkeit eines Folgeantrages nach Rückkehr in den Herkunftsstaat?

Leitsatz des Gerichts:
I. Der alleinige Umstand, dass ein Folgeantragsteller seit der Erstentscheidung in den Herkunftsstaat zurückgekehrt ist und dort gelebt hat, bedeutet noch nicht, dass seinem nunmehrigen Folgeantrag automatisch neue Elemente oder Umstände (Art 33 Abs 2 lit d bzw Art 40 Abs 2 und 3 RL 2013/32/EU) innewohnen.

II. Der genannte Umstand alleine hindert die Mitgliedstaaten also noch nicht daran, auf Folgeanträge den Unzulässigkeitstatbestand der res iudicata (Art 33 Abs 2 lit d RL 2013/32/EU) anzuwenden.

III. Von Art 33 Abs 2 lit d RL 2013/32/EU dürfen die Mitgliedstaaten auch Gebrauch machen, wenn in der Erstentscheidung zwar nicht die Voraussetzungen für subsidiären Schutz geprüft worden waren, wenigstens aber die Kriterien des Art 15 RL 2011/95/EU (Refoulementverbot) bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen maßstäblich waren (nach österreichischem Recht also, wenn wenigstens eine Prüfung gemäß § 50 Abs 1 FPG stattgefunden hatte).

IV. Ein "Folgeantrag" iSd Art 2 lit q, Art 33 Abs 2 lit d und Art 40 RL 2013/32/EU ist von einem "neuen Antrag" iSd Art 19 Abs 3 UAbs 2 Dublin III-VO streng zu unterscheiden. Eine Übernahme der zur Dublin III-VO (604/2013) ergangenen Judikatur verbietet sich sohin.
- | Online seit - 15.09.2023
3131

Judikatursammlung

Kein Auslösen von Rechtswirkungen bei späterer, neuerlicher Zustellung eines Bescheids

Leitsatz des Gerichts:
Eine im Anschluss an die rechtswirksame Zustellung eines behördlichen Schriftstückes erneute, spätere Zustellung löst gemäß § 6 ZustellG keine Rechtsfolgen mehr aus.
- | Online seit - 14.09.2023
3130

Judikatursammlung

Keine asylrechtlich relevante Verfolgung bei bloßer Furcht zur Ableistung des Militärdienstes bzw Bestrafung im Verweigerungsfall ohne Hinzutreten weiterer Umstände

Leitsatz des Gerichts:
Die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung stellt im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar.
- | Online seit - 13.09.2023
3129

Judikatursammlung

Überwiegen der Interessen am weiteren Verbleib in Österreich bei bestehendem Familienleben mit einem österreichischen Staatsangehörigen

Leitsatz des Gerichts:
I. Wird durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben eines Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

II. Bei der Beurteilung ist eine Gegenüberstellung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung mit dem persönlichen Interesse der Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen.
- | Online seit - 12.09.2023
3128

Judikatursammlung

Zurückweisung einer Säumnisbeschwerde bei mangelnder Bescheinigung der erfolgten Antragstellung

Leitsatz des Gerichts:
I. Unter dem Begriff "Glaubhaftmachung" versteht die Verwaltungsrechtsordnung die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Tatsache.

II. Der Zweck der Glaubhaftmachung gemäß § 9 Abs 5 VwGVG besteht darin, dass sich für eine Prüfung a limine die Säumigkeit bereits aus dem Vorbringen in der Beschwerde selbst oder den der Beschwerdeschrift beigefügten Bescheinigungsmitteln ergibt.
- | Online seit - 11.09.2023
3127

Judikatursammlung

Kein Verfolgungsgrund der Wehrdienstverweigerung bzw Zwangsrekrutierung aufgrund Minderjährigkeit

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Gefahr einer wegen Wehrdienstverweigerung drohenden Bestrafung kann zur Asylgewährung führen, wenn das Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt.

II. Eine Verfolgungshandlung ist nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, soweit diesen Asylrelevanz zukommt.
- | Online seit - 08.09.2023
3124

Judikatursammlung

Mitteilung über mögliche künftige Zulassung zum Studium unter Bedingungen ist keine Aufnahmebestätigung

Leitsatz des Gerichts:
I. Universitäre "Bescheide" mit dem Inhalt, dass der/die Betreffende unter näher genannten Bedingungen - die noch vor der tatsächlichen Zulassung zu erfüllen seien - zu einem späteren Zeitpunkt zum Studium zugelassen werden könne und die dann geltende Rechtslage maßgeblich sei, sind nach stRsp nicht als Aufnahmebestätigung, sondern als (bloße) Information zu erachten und stellen damit keinen Nachweis für die Erfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen iSd § 64 Abs 1 NAG iVm § 8 Z 8 lit a NAG-DV dar.

II. Das LVwG hat vor der Erteilung eines Aufenthaltstitels die Erfüllung sämtlicher Erteilungsvoraussetzungen zu prüfen, nicht nur jener, die im behördlichen Verfahren als nicht vorliegend erachtet wurden. Dem steht auch das Neuerungsverbot nicht entgegen, stellt doch die Frage, ob in dem hier vorgelegten "Bescheid" der Universität Wien eine aufrechte Bestätigung über die Zulassung zum Studium zu erblicken ist, keine Tatsachenfrage, sondern letztlich eine Frage der rechtlichen Würdigung eines von Anfang an durch eine vorgelegte Urkunde bekannten Sachverhalts dar.
- | Online seit - 07.09.2023
3123

Judikatursammlung

Freiwillige Zuwendungen sind keine Unterhaltsleistungen

Leitsatz des Gerichts:
I. Unterhaltsleistungen sind von freiwilligen Zuwendungen abzugrenzen, wobei Letztere den Tatbestand des § 47 Abs 3 Z 3 lit a NAG nicht erfüllen.

II. Ein Familiennachzug iSd § 47 Abs 3 Z 3 lit a NAG setzt voraus, dass der Nachziehende während seines Aufenthalts im Bundesgebiet auf Unterhaltsmittel des Zusammenführenden angewiesen ist und ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Zusammenführenden und dem Nachziehenden besteht. Nach stRsp reicht es zudem nicht aus, wenn irgendwann vor Antragstellung im Herkunftsland Unterhalt bezogen wurde, sondern der Nachziehende muss bis zuletzt auf die Unterhaltsleistungen des Zusammenführenden angewiesen sein.
- | Online seit - 06.09.2023
3122

Judikatursammlung

Unvertretbare Beweiswürdigung iZm unterstellter Aufenthaltsehe

Leitsatz des Gerichts:
I. Nach der Rsp des VwGH sprechen regelmäßige Kontakte über das Internet sowie Besuche des Ehepartners nicht unmaßgeblich für eine "echte" (im Sinne einer tatsächlich gelebten) Ehe.

II. Dass bei der kirchlichen Hochzeit etwa 100 Gäste anwesend waren und der Ehemann der Revisionswerberin diese Hochzeit zur Gänze finanziert hat, spricht gegen eine Aufenthaltsehe.

III. Indem das LVwG auf das Vorliegen einer "dauerhaften, durch enge Verbundenheit und gegenseitigen Beistand geprägten Beziehung" zwischen der Revisionswerberin und ihrem Ehemann abstellte und dabei verkannte, dass aufgrund der Einhaltung der Regeln über den "Familiennachzug" und die gebotene Auslandsantragstellung samt Abwarten der Entscheidung über den beantragten Aufenthaltstitel in Nigeria notwendigerweise eine bloße "Fernbeziehung" mit den damit verbundenen Einschränkungen bestehen kann, erweist sich die Beweiswürdigung fallbezogen als nicht schlüssig.
- | Online seit - 05.09.2023
3126

Judikatursammlung

Prüfungsvoraussetzungen hinsichtlich der Geltendmachung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Verpflichtung, gestützt auf Art 4 EMRK von einer Ausweisung abzusehen, besteht nur dann, wenn ein unmittelbares Risiko einer erneuten Rekrutierung oder Vergeltungsmaßnahmen glaubhaft gemacht werden können.

II. Zur Geltendmachung des Fluchtgrundes der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe müssen zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe "angeborene Merkmale" oder einen "Hintergrund, der nicht verändert werden kann" gemeinsam haben. Zum anderen muss die Gruppe im betreffenden Drittstaat eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie auch von der Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
- | Online seit - 04.09.2023
3121

Judikatursammlung

Unzureichende Maßnahmen der ungarischen Grenzpolizei zum Schutz des Lebens von Migrant*innen, die versuchten, den Grenzfluss Theiss schwimmend zu überqueren

Leitsatz des Gerichts:
I. Selbst in Fällen unabsichtlicher Eingriffe in das Recht auf Leben kann Art 2 EMRK ausnahmsweise eine strafrechtliche Untersuchung verlangen. Wenn den staatlichen Organen oder Einrichtungen eine Nachlässigkeit zuzurechnen ist, die über eine bloße Fehleinschätzung oder Unachtsamkeit hinausgeht, weil sie es in vollem Bewusstsein der wahrscheinlichen Konsequenzen und in Vernachlässigung ihrer Befugnisse verabsäumten, die zur Vermeidung der einer gefährlichen Aktivität innewohnenden Risiken notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, kann es eine Verletzung von Art 2 EMRK begründen, wenn die für eine Lebensgefährdung Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Daher waren die ungarischen Behörden im vorliegenden Fall verpflichtet, die mögliche Verantwortlichkeit der Grenzpolizisten für das Ertrinken eines Migranten in der Theiß in einem strafrechtlichen Verfahren zu klären.

II. Nach dem Ertrinken eines Migranten in einem Grenzfluss muss auch untersucht werden, ob die Grenzpolizisten ihre Verpflichtung vernachlässigt haben, die gebotenen Rettungsmaßnahmen zu ergreifen. Dabei geht es nicht nur um die individuelle Verantwortung einzelner Polizisten, sondern auch darum, ob ausreichende organisatorische und technische Vorkehrungen getroffen wurden, um solche Todesfälle zu vermeiden.

III. Ist den Behörden ein reales Risiko für Leben und Unversehrtheit von Migrant*innen bekannt, weil es regelmäßig zu Versuchen kommt, einen Grenzfluss schwimmend zu überqueren, verlangen die aus Art 2 EMRK resultierenden positiven Verpflichtungen, Maßnahmen zur Vermeidung von Todesfällen zu ergreifen. Diese Verpflichtungen erstrecken sich auf die Planung und Kontrolle eines Einsatzes, um die Minimierung jeder Lebensgefahr zu gewährleisten. Sie umfasst auch die Verpflichtung, präventive operative Maßnahmen zu ergreifen, um eine reale und unmittelbare Lebensgefahr abzuwenden, von der die Behörden wussten oder wissen hätten müssen. Zugleich ist zu bedenken, dass von staatlichen Organen nicht erwartet werden kann, bei der Rettung jeder einzelnen Person aus einer gefährlichen Situation erfolgreich zu sein.

IV. Im vorliegenden Fall wurde von den ungarischen Grenzpolizisten nicht alles getan, was von ihnen vernünftigerweise erwartet werden konnte, um eine reale und unmittelbare Lebensgefahr abzuwenden, die ihrem Wissen nach zu erwarten war.
- | Online seit - 01.09.2023
3120

Judikatursammlung

Zum Verhältnis von Dublin III-VO und § 35 AsylG

Leitsatz des Gerichts:
I. Die europäischen Rechtsgrundlagen betreffend die Einreise von Drittstaatsangehörigen in den Schengenraum lassen erkennen, dass grds zuvor entsprechende Visa für die legale Einreise zu beantragen sind. Damit soll innerhalb des Schengenraums weitgehende Reisefreiheit gewährleistet werden. Mit wenigen Ausnahmen sind österreichische Vertretungsbehörden in den Mitgliedstaaten nicht mit den technischen Voraussetzungen für die Erteilung von derartigen Visa ausgestattet.

II. Reist eine fremde Person schutzsuchend in den Schengenraum (zB Einreise in Griechenland) ein, so können uU fluchtbedingte Hinderungsgründe an einer Beantragung eines Visums außerhalb des Schengenraums vorgelegen haben.
- | Online seit - 31.08.2023
3118

Judikatursammlung

Abgeleitetes Aufenthaltsrecht gemäß Art 20 AEUV und Verschiedenes zu Rechtsschutzdefiziten in Ungarn

Leitsatz des Gerichts:
I. Der EuGH hat Vorabentscheidungsersuchen unter der Prämisse zu beantworten, dass die Auslegung nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht (als Teil des Tatvorbringens) zutrifft.

II. Art 20 AEUV steht einem faktischen Zwang von Unionsbürgern entgegen, das Unionsgebiet als Ganzes in Begleitung eines Drittstaatsangehörigen zu verlassen, weil zu diesem ein faktisches Abhängigkeitsverhältnis besteht (auch wenn die Unionsbürger von ihrem Freizügigkeitsrecht nicht Gebrauch gemacht haben). In solchen Konstellationen steht dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht unmittelbar auf der Grundlage des Art 20 AEUV zu. Dies gilt jedoch nicht, wenn eine Möglichkeit des gemeinsamen Familienlebens in einem anderen Mitgliedstaat besteht.

III. Das sich aus Art 20 AEUV ergebende abgeleitete Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger gilt nicht absolut, vielmehr darf davon auf Grund des Schutzes der öffentlichen Sicherheit bzw der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit dispensiert werden. Dabei ist aber eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses insb auch Gesundheitszustand, familiäre und wirtschaftliche Situation des minderjährigen Kindes mit Unionsbürgerschaft.

IV. Ein Einreiseverbot, dem rechtswidrigerweise keine Rückkehrentscheidung vorausgegangen war, fällt iSd Art 11 RL 2008/115/EG dennoch unter diese RL und deren Schutzvorschriften.

V. Art 5 RL 2008/115/EG mit seinen grundrechtlich indizierten Schutzvorschriften ist unmittelbar anwendbar und genießt daher Vorrangwirkung. Um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, ist ein nationales Gericht jedoch nicht dazu verpflichtet, eine unionsrechtskonforme früher in Geltung stehende nationale Rechtsnorm anstelle der geltenden unionsrechtswidrigen wieder anzuwenden.

VI. Effektiver Rechtsschutz bedeutet, dass auch einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden kann (vgl etwa Art 13 Abs 2 RL 2008/115/EG in Zusammenschau mit Art 47 GRC). Damit steht ein Vorgehen von Behörden im Widerspruch, per gerichtlicher Anordnung einstweilig ausgesetzte Einreiseverbote weiterhin mit der Begründung zu vollstrecken, dass das Einreiseverbot bereits Gegenstand einer Ausschreibung im SIS sei.
- | Online seit - 30.08.2023
3115

Judikatursammlung

Zur Verfolgungsgefahr bei Zugehörigkeit zum Minderheitenclan der Madhibaan in Somalia

Leitsatz des Gerichts:
I. Können Personen, die einem Minderheitenclan (hier: Minderheitenclan der Madhibaan in Mogadischu – Somalia) zugehörig sind, etwa die Schule besuchen, einer Erwerbstätigkeit (mit welcher eine Existenz aufgebaut werden kann) nachgehen udgl, so relativieren sich eventuelle mit der Clanzugehörigkeit verbundene Diskriminierungen erheblich.

II. Werden keine hinreichenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nachgewiesen, so kann im Hinblick auf ein eventuelles Einreiseverbot davon ausgegangen werden, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedeuten oder den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufen wird. Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbots sind die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers, wie zB die strafgerichtliche Unbescholtenheit im Bundesgebiet entsprechend zu beachten und mit der möglichen Höchstdauer von fünf Jahren (§ 53 Abs 1 iVm Abs 2 FPG) in Relation zu setzen.

III. Das Ziel des Refoulementschutzes ist der Schutz vor exzeptionellen Lebenssituationen, ein Schutz vor unangenehmen Lebenssituationen (wie zB eine Rückkehr nach Somalia, wo die allgemeine Sicherheitslage als instabil erscheint) ist davon nicht erfasst.

IV. Hat die fremde Person den Großteil ihres Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbracht, spricht sie die Landessprache, ist sie dort sozialisiert und mit den örtlichen sowie kulturellen Gegebenheiten vertraut, so ist im Falle einer Rückkehr davon auszugehen, dass die fremde Person vor Ort wieder mit ihren Angehörigen in Kontakt treten und sich wieder in die dortige Gesellschaft eingliedern wird können.
- | Online seit - 29.08.2023
3117

Judikatursammlung

Notwendige Verhandlung iZm Feststellung nach § 20 Abs 4 NAG

Leitsatz des Gerichts:
Die bloße Einräumung der Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme genügt nicht, wenn die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ihre Einvernahme wiederholt beantragt und den vom LVwG angenommenen Sachverhalt für unzutreffend erachtet hat.
- | Online seit - 28.08.2023
3116

Judikatursammlung

Zum Fehlen eines Schulerfolgs

Leitsatz des Gerichts:
I. Mit dem Wiederholen von Semestern geht zwingend eine Verzögerung der Schulausbildung einher und infolgedessen ist bei Wiederholen von Semestern der Schulerfolgsnachweis als nicht erbracht anzusehen.

II. Ungeachtet der jeweiligen "Gesamtstudiendauer" ist der im zuletzt abgeschlossenen Schuljahr erbrachte Erfolg als maßgeblich zu erachten und dieser im Fall des Wiederholens eines Semesters zu verneinen.

III. Dass bei Eintritt der Fremden in die gegenständliche Schule eine Anrechnung von Leistungen erfolgt war, die es ihr erlaubt hatte, in ihrem ersten Schuljahr unmittelbar in das dritte Schulsemester einzutreten, ist im Fall, dass der Schulerfolg im darauffolgenden Schuljahr zu beurteilen ist, nicht relevant. Die zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte Anrechnung von externen Leistungen für die Schulausbildung befreit die Fremde jedenfalls nicht davon, für das gegenständlich maßgebliche Schuljahr den gemäß § 63 Abs 3 NAG erforderlichen Schulerfolg nachzuweisen.
- | Online seit - 25.08.2023
3114

Judikatursammlung

Besuch einzelner Lehrveranstaltungen als Vorbereitung auf Studienberechtigungsprüfung ist kein Universitätslehrgang

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Student" aufgrund eines früheren Antrags betreffend ein anderes Studienjahr entfaltet – auch wenn die Aufenthaltsbewilligung iZm derselben Ausbildung erteilt wurde – keine Bindungswirkung hinsichtlich der Vorfrage, ob vom Bewilligungswerber ein in § 64 Abs 1 Z 2 bis 7 NAG angeführtes Studium absolviert wird oder eine dort genannte Bildungseinrichtung vorliegt.

II. Die Aufnahmebestätigung iSd § 8 Z 8 lit a NAG-DV hat sich – da es um die Erbringung des Nachweises der besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 64 Abs 1 NAG geht – auf eines der in dieser Bestimmung genannten ordentlichen bzw außerordentlichen Studien zu beziehen.

III. Der Gesetzgeber hat in § 64 Abs 1 Z 3 und 4 NAG ausdrücklich und bewusst eine Einschränkung auf außerordentliche Studien im Rahmen von Universitätslehrgängen iSv § 56 UniversitätsG vorgenommen. Der Besuch einzelner Lehrveranstaltungen an einer Universität, die zur Vorbereitung auf die Studienberechtigungsprüfung bzw eine Ergänzungsprüfung dienen, sind einem Universitätslehrgang iSv § 56 UniversitätsG nicht gleichzuhalten. Die Bestimmungen des NAG weisen insoweit auch keine unbeabsichtigte Lücke auf. Einzelne Lehrveranstaltungen sollen offenkundig weder in der Z 3 noch in der Z 4 des § 64 Abs 1 NAG erfasst werden.

IV. Das NAG ermöglicht für einen Aufenthalt zwecks Erlangung eines Reifeprüfungszeugnisses bei einer der in § 63 Abs 1 NAG genannten Schuleinrichtungen und somit zwecks Erlangen der allgemeinen Universitätsreife (vgl § 64 Abs 1 UniversitätsG) die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Schüler".

V. Es ist evident, dass die Z 3 und die Z 4 des § 64 Abs 1 NAG (auch wenn hinsichtlich beider Ziffern die Absolvierung einer der dort genannten Studienformen – im vorliegenden Zusammenhang eines Universitätslehrgangs iSv § 56 UniversitätsG – erforderlich ist) unterschiedliche Konstellationen regeln.

VI. § 64 Abs 1 Z 6 NAG setzt voraus, dass ein in § 64 Abs 1 Z 4 NAG genanntes außerordentliches Studium absolviert wurde.
- | Online seit - 24.08.2023
3112

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Durch Behördenfehler verursachte Lücke der Aufenthaltsberechtigungen im Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG dem Betroffenen nicht zurechenbar

Leitsatz des Gerichts:
I. Die Ausstellung eines Konventionsreisepasses gemäß § 94 FPG hat keine konstitutive Wirkung.

II. Anders als im Fall der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, dessen Einreise- und Aufenthaltsrecht unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt wird, ist im Fall des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs 4 AsylG zusätzlich die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung vorgesehen. Damit ist gemäß § 31 Abs 1 Z 4 FPG ein rechtmäßiger Aufenthalt verbunden. Nur im Fall eines rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrags besteht die Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 dritter Satz AsylG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts weiter.

III. Von der gemäß § 8 Abs 4 AsylG zu erteilenden Berechtigung ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu unterscheiden. Bei der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs 4 AsylG handelt es sich nicht um die Verlängerung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

IV. Die Titelerteilung nach § 45 Abs 12 NAG erfordert, soweit Aufenthaltszeiten als subsidiär Schutzberechtigter zu beurteilen sind, dass der subsidiär Schutzberechtigte in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältig war.

V. Wenngleich es nach dem Wortlaut des § 45 Abs 12 NAG auf die fallspezifischen Ursachen für das Nichtvorliegen der gesetzlich normierten Voraussetzungen für die Erteilung eines Titels "Daueraufenthalt – EU" nicht ankommt, ist bei Vollziehung des Gesetzes iSd VfGH-Rsp zu berücksichtigen, dass die Behörde ein von ihr selbst zu vertretendes Versäumnis dann nicht zum Nachteil des Antragstellers verwenden darf, wenn sie selbst die verpönte Lage herbeigeführt hat, und dass rechtswidriges behördliches Verhalten nicht schon erworbene Rechtspositionen vernichten darf. Unter diesem Gesichtspunkt liegt eine planwidrige Lücke der Regelungen des § 45 Abs 12 NAG vor.

VI. Was Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG anbelangt, zieht eine Fristversäumnis bei Beantragung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG, für die keinerlei Sanierungsmöglichkeit besteht, oftmals erhebliche Konsequenzen für den Fremden nach sich. Mit Blick auf die übrigen nach § 45 NAG anspruchsberechtigten Personengruppen betrifft im Rahmen des § 45 NAG das Fehlen von Vorschriften über die "Quasi-Wiedereinsetzung" in vorangegangenen Verfahren vorwiegend subsidiär Schutzberechtigte nachteilig. Dabei wurde aber das Auftreten eines Behördenfehlers vom Gesetzgeber offenkundig nicht mit ins Kalkül gezogen. Vor diesem Hintergrund kann dem Gesetz nicht unterstellt werden, dass ein Behördenfehler, der die nicht fristgerechte Einbringung eines Verlängerungsantrags nach § 8 Abs 4 dritter Satz AsylG verursachte, in Bezug auf ein Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG die "Vernichtung" von bereits rechtmäßig zurückgelegten langjährigen Aufenthaltszeiten mit entsprechend nachteiligen Auswirkungen für den Betroffenen nach sich zöge.
- | Online seit - 23.08.2023