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Leitsätze

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3121

Unzureichende Maßnahmen der ungarischen Grenzpolizei zum Schutz des Lebens von Migrant*innen, die versuchten, den Grenzfluss Theiss schwimmend zu überqueren

Leitsätze
I. Selbst in Fällen unabsichtlicher Eingriffe in das Recht auf Leben kann Art 2 EMRK ausnahmsweise eine strafrechtliche Untersuchung verlangen. Wenn den staatlichen Organen oder Einrichtungen eine Nachlässigkeit zuzurechnen ist, die über eine bloße Fehleinschätzung oder Unachtsamkeit hinausgeht, weil sie es in vollem Bewusstsein der wahrscheinlichen Konsequenzen und in Vernachlässigung ihrer Befugnisse verabsäumten, die zur Vermeidung der einer gefährlichen Aktivität innewohnenden Risiken notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, kann es eine Verletzung von Art 2 EMRK begründen, wenn die für eine Lebensgefährdung Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Daher waren die ungarischen Behörden im vorliegenden Fall verpflichtet, die mögliche Verantwortlichkeit der Grenzpolizisten für das Ertrinken eines Migranten in der Theiß in einem strafrechtlichen Verfahren zu klären.

II. Nach dem Ertrinken eines Migranten in einem Grenzfluss muss auch untersucht werden, ob die Grenzpolizisten ihre Verpflichtung vernachlässigt haben, die gebotenen Rettungsmaßnahmen zu ergreifen. Dabei geht es nicht nur um die individuelle Verantwortung einzelner Polizisten, sondern auch darum, ob ausreichende organisatorische und technische Vorkehrungen getroffen wurden, um solche Todesfälle zu vermeiden.

III. Ist den Behörden ein reales Risiko für Leben und Unversehrtheit von Migrant*innen bekannt, weil es regelmäßig zu Versuchen kommt, einen Grenzfluss schwimmend zu überqueren, verlangen die aus Art 2 EMRK resultierenden positiven Verpflichtungen, Maßnahmen zur Vermeidung von Todesfällen zu ergreifen. Diese Verpflichtungen erstrecken sich auf die Planung und Kontrolle eines Einsatzes, um die Minimierung jeder Lebensgefahr zu gewährleisten. Sie umfasst auch die Verpflichtung, präventive operative Maßnahmen zu ergreifen, um eine reale und unmittelbare Lebensgefahr abzuwenden, von der die Behörden wussten oder wissen hätten müssen. Zugleich ist zu bedenken, dass von staatlichen Organen nicht erwartet werden kann, bei der Rettung jeder einzelnen Person aus einer gefährlichen Situation erfolgreich zu sein.

IV. Im vorliegenden Fall wurde von den ungarischen Grenzpolizisten nicht alles getan, was von ihnen vernünftigerweise erwartet werden konnte, um eine reale und unmittelbare Lebensgefahr abzuwenden, die ihrem Wissen nach zu erwarten war.

Gerichtshof

EGMR / 59.435/17 (Alhowais gegen Ungarn)

Datum der Entscheidung

02.02.2023

Veröffentlicht am: 01.09.2023
3120

Zum Verhältnis von Dublin III-VO und § 35 AsylG

Leitsätze
I. Die europäischen Rechtsgrundlagen betreffend die Einreise von Drittstaatsangehörigen in den Schengenraum lassen erkennen, dass grds zuvor entsprechende Visa für die legale Einreise zu beantragen sind. Damit soll innerhalb des Schengenraums weitgehende Reisefreiheit gewährleistet werden. Mit wenigen Ausnahmen sind österreichische Vertretungsbehörden in den Mitgliedstaaten nicht mit den technischen Voraussetzungen für die Erteilung von derartigen Visa ausgestattet.

II. Reist eine fremde Person schutzsuchend in den Schengenraum (zB Einreise in Griechenland) ein, so können uU fluchtbedingte Hinderungsgründe an einer Beantragung eines Visums außerhalb des Schengenraums vorgelegen haben.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

07.02.2022

Veröffentlicht am: 31.08.2023
3118

Abgeleitetes Aufenthaltsrecht gemäß Art 20 AEUV und Verschiedenes zu Rechtsschutzdefiziten in Ungarn

Leitsätze
I. Der EuGH hat Vorabentscheidungsersuchen unter der Prämisse zu beantworten, dass die Auslegung nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht (als Teil des Tatvorbringens) zutrifft.

II. Art 20 AEUV steht einem faktischen Zwang von Unionsbürgern entgegen, das Unionsgebiet als Ganzes in Begleitung eines Drittstaatsangehörigen zu verlassen, weil zu diesem ein faktisches Abhängigkeitsverhältnis besteht (auch wenn die Unionsbürger von ihrem Freizügigkeitsrecht nicht Gebrauch gemacht haben). In solchen Konstellationen steht dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht unmittelbar auf der Grundlage des Art 20 AEUV zu. Dies gilt jedoch nicht, wenn eine Möglichkeit des gemeinsamen Familienlebens in einem anderen Mitgliedstaat besteht.

III. Das sich aus Art 20 AEUV ergebende abgeleitete Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger gilt nicht absolut, vielmehr darf davon auf Grund des Schutzes der öffentlichen Sicherheit bzw der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit dispensiert werden. Dabei ist aber eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses insb auch Gesundheitszustand, familiäre und wirtschaftliche Situation des minderjährigen Kindes mit Unionsbürgerschaft.

IV. Ein Einreiseverbot, dem rechtswidrigerweise keine Rückkehrentscheidung vorausgegangen war, fällt iSd Art 11 RL 2008/115/EG dennoch unter diese RL und deren Schutzvorschriften.

V. Art 5 RL 2008/115/EG mit seinen grundrechtlich indizierten Schutzvorschriften ist unmittelbar anwendbar und genießt daher Vorrangwirkung. Um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, ist ein nationales Gericht jedoch nicht dazu verpflichtet, eine unionsrechtskonforme früher in Geltung stehende nationale Rechtsnorm anstelle der geltenden unionsrechtswidrigen wieder anzuwenden.

VI. Effektiver Rechtsschutz bedeutet, dass auch einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden kann (vgl etwa Art 13 Abs 2 RL 2008/115/EG in Zusammenschau mit Art 47 GRC). Damit steht ein Vorgehen von Behörden im Widerspruch, per gerichtlicher Anordnung einstweilig ausgesetzte Einreiseverbote weiterhin mit der Begründung zu vollstrecken, dass das Einreiseverbot bereits Gegenstand einer Ausschreibung im SIS sei.

Gerichtshof

EuGH / C-528/21

Datum der Entscheidung

27.04.2023

Veröffentlicht am: 30.08.2023
3115

Zur Verfolgungsgefahr bei Zugehörigkeit zum Minderheitenclan der Madhibaan in Somalia

Leitsätze
I. Können Personen, die einem Minderheitenclan (hier: Minderheitenclan der Madhibaan in Mogadischu – Somalia) zugehörig sind, etwa die Schule besuchen, einer Erwerbstätigkeit (mit welcher eine Existenz aufgebaut werden kann) nachgehen udgl, so relativieren sich eventuelle mit der Clanzugehörigkeit verbundene Diskriminierungen erheblich.

II. Werden keine hinreichenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nachgewiesen, so kann im Hinblick auf ein eventuelles Einreiseverbot davon ausgegangen werden, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedeuten oder den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufen wird. Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbots sind die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers, wie zB die strafgerichtliche Unbescholtenheit im Bundesgebiet entsprechend zu beachten und mit der möglichen Höchstdauer von fünf Jahren (§ 53 Abs 1 iVm Abs 2 FPG) in Relation zu setzen.

III. Das Ziel des Refoulementschutzes ist der Schutz vor exzeptionellen Lebenssituationen, ein Schutz vor unangenehmen Lebenssituationen (wie zB eine Rückkehr nach Somalia, wo die allgemeine Sicherheitslage als instabil erscheint) ist davon nicht erfasst.

IV. Hat die fremde Person den Großteil ihres Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbracht, spricht sie die Landessprache, ist sie dort sozialisiert und mit den örtlichen sowie kulturellen Gegebenheiten vertraut, so ist im Falle einer Rückkehr davon auszugehen, dass die fremde Person vor Ort wieder mit ihren Angehörigen in Kontakt treten und sich wieder in die dortige Gesellschaft eingliedern wird können.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

06.10.2022

Veröffentlicht am: 29.08.2023
3117

Notwendige Verhandlung iZm Feststellung nach § 20 Abs 4 NAG

Leitsätze
Die bloße Einräumung der Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme genügt nicht, wenn die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ihre Einvernahme wiederholt beantragt und den vom LVwG angenommenen Sachverhalt für unzutreffend erachtet hat.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0168

Datum der Entscheidung

20.03.2023

Veröffentlicht am: 28.08.2023
3116

Zum Fehlen eines Schulerfolgs

Leitsätze
I. Mit dem Wiederholen von Semestern geht zwingend eine Verzögerung der Schulausbildung einher und infolgedessen ist bei Wiederholen von Semestern der Schulerfolgsnachweis als nicht erbracht anzusehen.

II. Ungeachtet der jeweiligen "Gesamtstudiendauer" ist der im zuletzt abgeschlossenen Schuljahr erbrachte Erfolg als maßgeblich zu erachten und dieser im Fall des Wiederholens eines Semesters zu verneinen.

III. Dass bei Eintritt der Fremden in die gegenständliche Schule eine Anrechnung von Leistungen erfolgt war, die es ihr erlaubt hatte, in ihrem ersten Schuljahr unmittelbar in das dritte Schulsemester einzutreten, ist im Fall, dass der Schulerfolg im darauffolgenden Schuljahr zu beurteilen ist, nicht relevant. Die zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte Anrechnung von externen Leistungen für die Schulausbildung befreit die Fremde jedenfalls nicht davon, für das gegenständlich maßgebliche Schuljahr den gemäß § 63 Abs 3 NAG erforderlichen Schulerfolg nachzuweisen.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0082

Datum der Entscheidung

03.03.2023

Veröffentlicht am: 25.08.2023
3114

Besuch einzelner Lehrveranstaltungen als Vorbereitung auf Studienberechtigungsprüfung ist kein Universitätslehrgang

Leitsätze
I. Die Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Student" aufgrund eines früheren Antrags betreffend ein anderes Studienjahr entfaltet – auch wenn die Aufenthaltsbewilligung iZm derselben Ausbildung erteilt wurde – keine Bindungswirkung hinsichtlich der Vorfrage, ob vom Bewilligungswerber ein in § 64 Abs 1 Z 2 bis 7 NAG angeführtes Studium absolviert wird oder eine dort genannte Bildungseinrichtung vorliegt.

II. Die Aufnahmebestätigung iSd § 8 Z 8 lit a NAG-DV hat sich – da es um die Erbringung des Nachweises der besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 64 Abs 1 NAG geht – auf eines der in dieser Bestimmung genannten ordentlichen bzw außerordentlichen Studien zu beziehen.

III. Der Gesetzgeber hat in § 64 Abs 1 Z 3 und 4 NAG ausdrücklich und bewusst eine Einschränkung auf außerordentliche Studien im Rahmen von Universitätslehrgängen iSv § 56 UniversitätsG vorgenommen. Der Besuch einzelner Lehrveranstaltungen an einer Universität, die zur Vorbereitung auf die Studienberechtigungsprüfung bzw eine Ergänzungsprüfung dienen, sind einem Universitätslehrgang iSv § 56 UniversitätsG nicht gleichzuhalten. Die Bestimmungen des NAG weisen insoweit auch keine unbeabsichtigte Lücke auf. Einzelne Lehrveranstaltungen sollen offenkundig weder in der Z 3 noch in der Z 4 des § 64 Abs 1 NAG erfasst werden.

IV. Das NAG ermöglicht für einen Aufenthalt zwecks Erlangung eines Reifeprüfungszeugnisses bei einer der in § 63 Abs 1 NAG genannten Schuleinrichtungen und somit zwecks Erlangen der allgemeinen Universitätsreife (vgl § 64 Abs 1 UniversitätsG) die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Schüler".

V. Es ist evident, dass die Z 3 und die Z 4 des § 64 Abs 1 NAG (auch wenn hinsichtlich beider Ziffern die Absolvierung einer der dort genannten Studienformen – im vorliegenden Zusammenhang eines Universitätslehrgangs iSv § 56 UniversitätsG – erforderlich ist) unterschiedliche Konstellationen regeln.

VI. § 64 Abs 1 Z 6 NAG setzt voraus, dass ein in § 64 Abs 1 Z 4 NAG genanntes außerordentliches Studium absolviert wurde.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0113

Datum der Entscheidung

16.03.2023

Veröffentlicht am: 24.08.2023
3112

Durch Behördenfehler verursachte Lücke der Aufenthaltsberechtigungen im Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG dem Betroffenen nicht zurechenbar

Leitsätze
I. Die Ausstellung eines Konventionsreisepasses gemäß § 94 FPG hat keine konstitutive Wirkung.

II. Anders als im Fall der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, dessen Einreise- und Aufenthaltsrecht unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt wird, ist im Fall des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs 4 AsylG zusätzlich die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung vorgesehen. Damit ist gemäß § 31 Abs 1 Z 4 FPG ein rechtmäßiger Aufenthalt verbunden. Nur im Fall eines rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrags besteht die Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 dritter Satz AsylG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts weiter.

III. Von der gemäß § 8 Abs 4 AsylG zu erteilenden Berechtigung ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu unterscheiden. Bei der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs 4 AsylG handelt es sich nicht um die Verlängerung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

IV. Die Titelerteilung nach § 45 Abs 12 NAG erfordert, soweit Aufenthaltszeiten als subsidiär Schutzberechtigter zu beurteilen sind, dass der subsidiär Schutzberechtigte in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältig war.

V. Wenngleich es nach dem Wortlaut des § 45 Abs 12 NAG auf die fallspezifischen Ursachen für das Nichtvorliegen der gesetzlich normierten Voraussetzungen für die Erteilung eines Titels "Daueraufenthalt – EU" nicht ankommt, ist bei Vollziehung des Gesetzes iSd VfGH-Rsp zu berücksichtigen, dass die Behörde ein von ihr selbst zu vertretendes Versäumnis dann nicht zum Nachteil des Antragstellers verwenden darf, wenn sie selbst die verpönte Lage herbeigeführt hat, und dass rechtswidriges behördliches Verhalten nicht schon erworbene Rechtspositionen vernichten darf. Unter diesem Gesichtspunkt liegt eine planwidrige Lücke der Regelungen des § 45 Abs 12 NAG vor.

VI. Was Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG anbelangt, zieht eine Fristversäumnis bei Beantragung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG, für die keinerlei Sanierungsmöglichkeit besteht, oftmals erhebliche Konsequenzen für den Fremden nach sich. Mit Blick auf die übrigen nach § 45 NAG anspruchsberechtigten Personengruppen betrifft im Rahmen des § 45 NAG das Fehlen von Vorschriften über die "Quasi-Wiedereinsetzung" in vorangegangenen Verfahren vorwiegend subsidiär Schutzberechtigte nachteilig. Dabei wurde aber das Auftreten eines Behördenfehlers vom Gesetzgeber offenkundig nicht mit ins Kalkül gezogen. Vor diesem Hintergrund kann dem Gesetz nicht unterstellt werden, dass ein Behördenfehler, der die nicht fristgerechte Einbringung eines Verlängerungsantrags nach § 8 Abs 4 dritter Satz AsylG verursachte, in Bezug auf ein Verfahren nach § 45 Abs 12 NAG die "Vernichtung" von bereits rechtmäßig zurückgelegten langjährigen Aufenthaltszeiten mit entsprechend nachteiligen Auswirkungen für den Betroffenen nach sich zöge.

Gerichtshof

VwGH / Ro 2022/22/0003

Datum der Entscheidung

16.03.2023

Veröffentlicht am: 23.08.2023
3113

Auch im Ausland geschlossene Stellvertreterehen sind in der Regel anzuerkennen

Leitsätze
I. Die österreichische Vollziehung hat vom ordre public-Vorbehalt des § 6 IPRG nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. In Bezug auf im Ausland geschlossene Ehen begründet ein Abweichen von zwingenden österreichischen Vorschriften nicht bereits einen "ordre public"-Verstoß. Insb Zwangsehen und Kinderehen ist die Anerkennung zu verweigern.

II. Eine nach syrischem Recht wirksame Eheschließung, die im Wege der Stellvertretung (entgegen dem österreichischen Recht, konkret § 17 EheG) erfolgte, ist von der Vollziehung und sohin auch von den Fremdenbehörden anzuerkennen, wenn ihr ein Ehewillen zugrunde liegt.

III. Bevor es Stellvertreterehen nach den strengen Kriterien des § 6 IPRG die Anerkennung verweigert, hat das BFA im Botschaftsverfahren (§ 35 AsylG) Feststellungen zur ausländischen Eherechtslage als Tatfrage, zu den Modalitäten der Eheschließung sowie zur Beziehung der Eheleute zueinander zu treffen, widrigenfalls der Behörde krasse Ermittlungslücken iSd § 28 Abs 3 VwGVG anzulasten sind.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

01.02.2023

Veröffentlicht am: 22.08.2023
3111

"Daueraufenthalt - EU" erfordert Rechtmäßigkeit der fünfjährigen ununterbrochenen Niederlassung

Leitsätze
I. Für die Erteilung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" gemäß § 45 NAG ist eine in den letzten fünf Jahren ununterbrochene rechtmäßige Niederlassung erforderlich; eine bloß tatsächliche fünfjährige Niederlassung genügt nicht.

II. Unabhängig davon, ob der aufgrund einer Legitimationskarte gemäß dem hier noch maßgeblichen § 95 FPG rechtmäßige Aufenthalt als Niederlassung iSd § 2 Abs 2 NAG gilt, begründet die über Antrag des Fremden erst nach Ablauf der Gültigkeitsdauer seiner Legitimationskarte gemäß § 95 FPG ausgestellte Verlängerung weder ein rückwirkendes Aufenthaltsrecht, noch wird dadurch ein unrechtmäßiger Aufenthalt legalisiert.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2020/22/0069

Datum der Entscheidung

16.03.2023

Veröffentlicht am: 21.08.2023
3119

Verhängung eines Aufenthaltsverbots gegen einen vermindert schuldfähigen psychisch kranken Rechtsbrecher, der im Herkunftsstaat nicht behandelt würde

Leitsätze
I. Die Mitgliedstaaten sind befugt, auch seit vielen Jahren niedergelassene Fremde auszuweisen, doch müssen gewichtige Gründe für die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Diese können sich unter anderen aus einer Straffälligkeit ergeben. Vor einer solchen Entscheidung müssen sie jedoch eine Abwägung der Interessen des Fremden an der Fortsetzung seines Privat- bzw Familienlebens im Aufenthaltsstaat und dem öffentlichen Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts vornehmen. Der EGMR wird diese Abwägung akzeptieren, wenn sie auf seinen in stRsp entwickelten Kriterien (insb Üner gegen die Niederlande, Maslov gegen Österreich, Savran gegen Dänemark) beruht und keine gewichtigen Gründe dafür vorliegen, diese Abwägung durch eine vom EGMR selbst vorgenommene zu ersetzen.

II. Bei der von Art 8 EMRK gebotenen Interessenabwägung vor der Ausweisung eines niedergelassenen Fremden sind auch medizinische Aspekte zu berücksichtigen, wie insb die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der notwendigen Behandlung im Herkunftsstaat.

III. Im Fall der Ausweisung eines straffällig gewordenen Fremden, dessen Schuldfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung herabgesetzt ist, müssen sowohl die Schwere der begangenen Straftaten als auch die verminderte Schuldfähigkeit berücksichtigt werden. Diese kann das Gewicht der Straftaten bei der Interessenabwägung mindern.

IV. Wiederholte Verurteilungen wegen Vermögens- und Gewaltdelikten und eine Verurteilung wegen Vergewaltigung stellen sehr schwerwiegende Gründe dar, die eine Ausweisung eines seit Kindheit rechtmäßig aufhältigen Fremden rechtfertigen können.

V. Die Ausweisung ist in einem solchen Fall jedoch nicht mit Art 8 EMRK vereinbar, wenn die innerstaatlichen Gerichte bzw Behörden den psychischen Zustand des Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt haben, aufgrund dessen die Schuldfähigkeit vermindert war und eine fortgesetzte Behandlung geboten ist.

Gerichtshof

EGMR / 8.757/20 (Azzaqui gegen die Niederlande)

Datum der Entscheidung

30.05.2023

Veröffentlicht am: 18.08.2023
3110

Aufenthaltstitel: konkreter Gültigkeitsbeginn anzugeben

Leitsätze
Die Erteilung eines Aufenthaltstitels durch ein Verwaltungsgericht mit der Maßgabe "für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum" bzw "ab Ausstellung des Dokuments" entspricht nicht dem Gesetz.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0002

Datum der Entscheidung

08.03.2023

Veröffentlicht am: 17.08.2023
3107

Feststellungsantrag zu Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 unzulässig

Leitsätze
I. Ein rechtliches Interesse des Betroffenen an einer Bescheinigung bzw an einer deklarativen Feststellung des ihm nach dem ARB 1/80 zustehenden Aufenthaltsrechts ist zwar anzuerkennen. Allerdings wird dem Interesse an der Dokumentation einer aus dem ARB 1/80 erfließenden Berechtigung dadurch Rechnung getragen, dass gemäß § 4c AuslBG eine Beschäftigungsbewilligung von Amts wegen zu erteilen ist, wenn türkische Staatsangehörige die Voraussetzungen nach Art 6 Abs 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllen. Die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des Art 6 Abs 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 wird somit in einem Verfahren nach § 4c AuslBG geklärt; diese Aussagen sind auch auf Fälle nach Art 6 Abs 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 übertragbar.

II. Ein Antrag auf Feststellung eines Aufenthaltsrechts nach dem ARB 1/80 ist unzulässig. In diesem Zusammenhang erhobene Bedenken in Bezug auf die Möglichkeit zur Aus- und Wiedereinreise sind nicht stichhaltig.

III. Türkische Staatsangehörige genießen nach dem ARB 1/80 keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2021/22/0163

Datum der Entscheidung

08.03.2023

Veröffentlicht am: 16.08.2023
3104

Trennung vom österreichischen Ehepartner nur aus ganz besonders wichtigen Gründen

Leitsätze
I. Der VwGH geht in stRsp davon aus, dass die Trennung von einem österreichischen Ehepartner vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK nur dann gerechtfertigt ist, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme der aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den "Familiennachzug".

II. Die vom LVwG angeführte "Achtlosigkeit" der Revisionswerberin im Hinblick auf die rechtzeitige Verlängerung ihres Aufenthaltstitels kann einer Straffälligkeit oder einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den "Familiennachzug" iSd stRsp des VwGH nicht annähernd gleichgehalten werden, weshalb sich auch eine nur vorübergehende, jedenfalls aber nicht ganz kurzfristige (siehe nur die rund fünfzehnmonatige Dauer des Erstverfahrens), Trennung der Revisionswerberin von ihrem österreichischen Ehemann eben gerade nicht als gerechtfertigt erweist.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2021/22/0193

Datum der Entscheidung

14.03.2023

Veröffentlicht am: 14.08.2023
3109

Unzureichende Aufnahmebedingungen für schwangere Frau im Aufnahmezentrum Samos

Leitsätze
I. Angesichts des absoluten Charakters von Art 3 EMRK kann ein Staat durch eine Situation des erhöhten Zustroms von Migranten und Asylwerberinnen und den damit verbundenen Schwierigkeiten nicht von seinen aus dieser Bestimmung resultierenden Verpflichtungen befreit werden.

II. Die Anwendung von Art 3 EMRK setzt voraus, dass eine Misshandlung ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht. Diese Schwelle hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, ihren physischen und psychischen Wirkungen und in manchen Fällen vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.

III. Im Fall einer fortgeschrittenen Schwangerschaft besteht ein Bedarf nach besonderer Pflege.

IV. Im Sommer und Herbst 2019 herrschten nach übereinstimmenden Berichten der Menschenrechtskommissarin, des UNHCR, der griechischen Menschenrechtskommission sowie zahlreicher NGOs Lebensbedingungen, die nicht den von Art 3 EMRK geforderten Mindeststandards entsprachen.

Gerichtshof

EGMR / 55.363/16 (A. D. gegen Griechenland)

Datum der Entscheidung

04.04.2023

Veröffentlicht am: 11.08.2023
3105

Kein überwiegendes Behördenverschulden an Säumnis angesichts der aktuellen Überlastung des BFA

Leitsätze
I. Damit eine zulässige Säumnisbeschwerde auch begründet ist, muss die Säumnis auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen sein (§ 8 Abs 1 letzter Satz VwGVG). Dies ist insb dann der Fall, wenn die Behörde die für die zügige Verfahrensführung notwendigen Schritte unterlässt oder mit diesen grundlos zuwartet. Ein allgemeiner Hinweis auf eine Überlastung genügt nicht.

II. Wohl aber kann eine Potenzierung des Arbeitsanfalls bei der Behörde, ohne dass dem auch nur annähernd entsprechende personelle Aufstockungen gegenüberstünden, das Verschulden der Behörde als nicht mehr überwiegend erscheinen lassen, selbst dann, wenn den Antragsteller gar kein Verschulden trifft. Die gegenwärtige Überlastung des BFA begründet einen solchen Sonderfall. Dieser Umstand kann nicht dadurch relativiert werden, dass das BFA nicht bei allen Asylverfahren die Entscheidungsfrist von sechs Monaten überschreitet.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

02.05.2023

Veröffentlicht am: 10.08.2023
3103

Schriftliche Ausfertigung mehr als zwei Jahre nach mündlicher Verkündung verfassungswidrig (I)

Leitsätze
I. Unabhängig von der Möglichkeit, die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung anzufechten, ist der Rechtsschutzsuchende idR auf die – nähere und ausführliche – Begründung der Entscheidung in der schriftlichen Ausfertigung gemäß § 29 Abs 4 VwGVG angewiesen, um die Entscheidung aufgrund der maßgebenden Erwägungen gegebenenfalls mit einer Beschwerde gemäß Art 144 B-VG bekämpfen zu können. Aus der rechtsstaatlich gebotenen Pflicht zur Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen folgt daher iZm der Regelungssystematik des § 29 VwGVG auch die Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden effektiver Rechtsschutz verwehrt sein könnte, was rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung gerichtlicher Entscheidungen widerspricht.

II. Die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung des LVwG Wien erfolgte im Beschwerdefall 29 Monate nach der mündlichen Verkündung. Eine derart lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung widerspricht jedenfalls der Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung.

Gerichtshof

VfGH / E 89/2023

Datum der Entscheidung

27.02.2023

Veröffentlicht am: 09.08.2023
3098

Aufenthalt in der Schweiz vor Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens EG - Schweiz begründet keinen Freizügigkeitssachverhalt

Leitsätze
I. Bezogen auf Aufenthaltszeiten eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat der Union stellt § 57 NAG darauf ab, dass der Unionsbürger von seinem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht iSv Art 7 lit a, b oder c der RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht hat. Der Ehegatte der Fremden kann während seiner Aufenthalte in der Schweiz nicht von einem durch das Freizügigkeitsabkommen EG - Schweiz garantierten Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, wenn das in Rede stehende Freizügigkeitsabkommen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft getreten war. Selbst wenn jedoch das Aufenthaltsrecht des Ehegatten der Fremden in der Schweiz in den 1980er-Jahren nicht bloß auf innerstaatlichem Schweizer Recht, sondern auch auf bilateralen oder anderen Verträgen beruht haben sollte, ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass es sich dabei um Rechtsgrundlagen gehandelt hätte, auf die ein "Freizügigkeitssachverhalt" gegründet werden könnte. Dies wäre allerdings Voraussetzung dafür, überhaupt in Erwägung ziehen zu können, dass derartige Aufenthaltszeiten eines österreichischen Staatsbürgers in der Schweiz für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für dessen drittstaatsangehörige Ehegattin von Bedeutung sein könnten.

II. Zwecks Annahme eines unionsrechtlich begründeten (bzw eines auf das Freizügigkeitsabkommen EG - Schweiz zurückzuführenden) Aufenthaltsrechts der Fremden in Österreich bedarf es eines Rückgriffs auf die zu primärrechtlichen Grundlagen (vgl Art 21 AEUV) ergangene Judikatur des EuGH.

Gerichtshof

VwGH / Ro 2022/22/0009

Datum der Entscheidung

26.01.2023

Veröffentlicht am: 08.08.2023
3102

Nachweis der Identität bei Verleihung der Staatsbürgerschaft

Leitsätze
Der Nachweis der Identität im Staatsbürgerschaftsverfahren mittels Dokumenten und Zeugen aus einem Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz ist zulässig.

Gerichtshof

VfGH / E 3480/2022

Datum der Entscheidung

14.03.2023

Veröffentlicht am: 07.08.2023
3101

Verletzungen der datenschutzrechtlichen Rechenschaftspflicht im asylbehördlichen und Rechtsfolgen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren

Leitsätze
I. Die Frage der Erfüllung der Rechenschaftspflicht gemäß Art 5 Abs 2 DSGVO durch datenschutzrechtlich Verantwortliche wie die einen elektronischen Asylakt führende Verwaltungsbehörde ist von der Frage der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung an sich (Art 5 Abs 1, Art 6 bis 11 DSGVO) strikt zu trennen.

II. Diese strikte Differenzierung zwischen Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung einerseits und der Erfüllung der sonstigen Pflichten des Verantwortlichen andererseits führt dazu, dass Verletzungen von Pflichten iSd 4. Kapitels der DSGVO durch die Asylbehörde der Rechtmäßigkeit der Verwertung der betroffenen Daten durch das Verwaltungsgericht nicht entgegenstehen.

Gerichtshof

EuGH / C-60/22

Datum der Entscheidung

04.05.2023

Veröffentlicht am: 04.08.2023