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Leitsätze

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3199

Unverschuldete Säumnis des BFA aufgrund Vorliegens einer dem Jahr 2015 vergleichbaren Belastungssituation

Leitsätze
I. Die Behörden sind im Allgemeinen verpflichtet, über Anträge von Parteien ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Mangels einer abweichenden Frist gilt dies auch im Verfahren auf internationalen Schutz. Eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht kann erst erhoben werden, wenn die Behörde nicht innerhalb dieser Frist entschieden hat.

II. Eine Verletzung der Entscheidungspflicht setzt ein objektives Verschulden der Behörde voraus.

III. Der allgemeine Hinweis auf die Überlastung der Behörde kann die Geltendmachung der Entscheidungspflicht grundsätzlich nicht vereiteln.

IV. Die Antragssituation in den Jahren 2022/2023 ist mit jener in den Jahren 2015/2016 vergleichbar, sodass auch aktuell davon auszugehen ist, dass dem BFA kein Verschulden zuzurechnen ist, wenn ein Verfahren nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist entschieden wird.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

22.06.2023

Veröffentlicht am: 28.12.2023
3198

Keine Heilung von Zustellmängeln bei fehlerhafter Empfängerbezeichnung in der Zustellverfügung

Leitsätze
I. Die Zustellung an eine Person, die zu Unrecht als Zustellungsbevollmächtigter der Partei angesehen wird, vermag gegenüber der Partei keine Rechtswirkungen zu entfalten. Dies selbst dann, wenn der Partei das Schriftstück tatsächlich zugekommen ist.

II. Die fehlerhafte Bezeichnung einer Person als Empfänger in der Zustellverfügung kann nicht heilen.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

22.05.2023

Veröffentlicht am: 27.12.2023
3202

Zum Begriff der "besonders schweren Straftat" nach Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU

Leitsätze
I. Der Begriff der "besonders schweren Straftat", derentwegen iVm einer qualifizierten Gefahr die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erfolgen hat (Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU), ist autonom unionsrechtlicher Art und dementsprechend unionsweit einheitlich auszulegen. Der Begriff ist, weil er mit der Statusaberkennung eine Ausnahme eröffnet, die am schärfsten in Flüchtlingsrechte eingreift, sehr eng zu interpretieren.

II. In einer Einzelfallprüfung sind zur Klärung des Vorliegens "einer besonders schweren Straftat" insb die folgenden Merkmale zu prüfen: Strafmaß nach nationalem Recht, Art der Straftat (vorsätzlich oder fahrlässig), erschwerende oder mildernde Umstände, verursachte Schäden, Form des diesbezüglichen Verfahrens, Art der Strafmaßnahme und Vergleich mit anderen Rechtsordnungen (um zu klären, ob die Tat auch dort als "besonders schwere Straftat" qualifiziert werden würde).

III. Es steht den Mitgliedstaaten offen, zur Verwaltungsvereinfachung "Mindestschwellen" für eine besonders schwere Straftat zu implementieren. Stets muss es aber bei der geschilderten Einzelfallprüfung bleiben.

IV. Es ist unzulässig, vom Vorliegen einer besonders schweren Straftat auf das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Aufenthaltsmitgliedstaats zu schließen, vielmehr müssen beide selbständigen Kriterien kumulativ vorliegen.

Gerichtshof

EuGH / C-402/22

Datum der Entscheidung

06.07.2023

Veröffentlicht am: 22.12.2023
3197

Beurteilungskriterien hinsichtlich des Vorliegens eines schützenswerten Familienlebens

Leitsätze
I. Es bedarf einer Prüfung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren; die bloße Aufenthaltsdauer ist nicht allein maßgeblich.

II. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären und sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.

III. Zwischen Eltern und volljährigen Kindern besteht kein Familienleben, solange nicht zusätzliche Elemente der Abhängigkeit nachgewiesen werden.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

19.05.2023

Veröffentlicht am: 21.12.2023
3196

Bewertungsmaßstäbe an ein gesteigertes Vorbringen im Asylverfahren

Leitsätze
I. Nach stRsp des VwGH ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubwürdig anzusehen, sondern muss vielmehr den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden, zumal es der Lebenserfahrung entspricht, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit idR am nächsten kommen.

II. Vorgebrachte Fluchtgründe sind nach der Judikatur dann nicht als glaubhaft anzusehen, wenn der Asylwerber diese im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Abläufen oder tatsächlichen Verhältnissen und Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Verfahrens vorgebracht werden.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

19.05.2023

Veröffentlicht am: 20.12.2023
3194

Zur rechtlichen Einordnung des verschuldeten Nichtbesuchs bzw Abbruchs eines Deutschkurses durch Sozialhilfe-Bezugsberechtigte

Leitsätze
I. § 16c Abs 1 IntG führt hinsichtlich der dort genannten Personengruppen während des aufrechten Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe, die an die Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft geknüpft sind, eine Pflicht "zur vollständigen Teilnahme, zur gehörigen Mitwirkung und zum Abschluss eines Werte- und Orientierungskurses gemäß § 5 bzw. § 16a" IntG an, ohne - wie etwa § 6 Abs 1 IntG - auf eine gleichlautende Verpflichtung in Ansehung der in § 4 IntG geregelten Deutschkurse Bezug zu nehmen. Gleichzeitig wird in § 16c Abs 1 IntG allerdings normiert, dass die Betreffenden "der Pflicht zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds" unterliegen. Bereits aus dem Wortlaut des § 16c Abs 1 IntG ergibt sich somit unmissverständlich, dass die dort genannten Personen während des aufrechten Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe, die an die Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft geknüpft sind, der Pflicht zur Absolvierung der genannten Prüfung unterliegen. Eine Frist zur Absolvierung dieser Prüfung sieht diese Bestimmung nicht vor. Wurde diese Prüfung nicht absolviert, liegt demnach ein Verstoß gegen die genannte Pflicht nach §16c Abs 1 IntG vor.

II. Die B1-Integrationsprüfung, hinsichtlich der § 16d letzter Satz IntG eine sinngemäße Anwendung des § 12 IntG normiert, umfasst nach § 12 Abs 2 IntG Sprach- und Werteinhalte, wobei mit der Prüfung auch festzustellen ist, ob der Betreffende "über vertiefte Kenntnisse der deutschen Sprache zur selbständigen Sprachverwendung auf dem Sprachniveau B1 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen" verfügt. Bei der Beurteilung der Frage, ob dem Bezieher von Leistungen der Sozialhilfe ein schuldhafter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Absolvierung der genannten Prüfung iSd § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG anzulasten ist, kann das Verhalten des Betreffenden in Ansehung von (vorgelagerten) Deutschkursen, die erst dem Erwerb jener Sprachkenntnisse dienen sollen, der eine Absolvierung der genannten Prüfung ermöglicht, aber nicht von vornherein ausgeblendet werden. Dieses Verhalten ist vielmehr im Rahmen der - einzelfallbezogenen - Beurteilung, ob ein schuldhafter Verstoß gegen die Pflicht gemäß § 16c Abs 1 IntG zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung iSd § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG vorliegt, zu berücksichtigen. Werden angebotene Deutschkurse vom Hilfeempfänger ohne ausreichende Begründung nicht besucht oder abgebrochen, kann jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass eine schuldhafte Verletzung der Pflicht gemäß § 16c Abs 1 IntG zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung nicht vorliegt. Ein derartiges Verständnis ergibt sich auch aus den Materialien zu § 9 Sozialhilfe-GrundsatzG bzw § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG.

III. Der bloß unregelmäßige Besuch bzw Abbruch eines Deutschkurses kann eine Verweigerung der Teilnahme an einer Maßnahme zur Verbesserung der Integrationsfähigkeit in den Arbeitsmarkt iSd § 8b Abs 1 Z 2 lit c Sbg SozialunterstützungsG darstellen.

IV. § 8b Abs 3 letzter Satz Sbg SozialunterstützungsG sieht vor, dass dann, wenn neben einem Verstoß gegen § 16c Abs 1 IntG auch ein solcher gemäß § 8b Abs 1 Sbg SozialunterstützungsG vorliegt, die Kürzungsstufen des § 8b Abs 2 Sbg SozialunterstützungsG für die Dauer der gleichzeitigen Pflichtverstöße gelten.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/10/0012

Datum der Entscheidung

24.01.2023

Veröffentlicht am: 19.12.2023
3192

Aufenthaltsrecht aufgrund des Anspruchs eines Kleinkindes auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen

Leitsätze
I. Kinder haben einen Anspruch auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen (Kindeswohl). Wird ein Kind aufgrund einer Rückkehrentscheidung gegen den Vater gezwungen, ohne diesen aufzuwachsen, so bedarf diese Konsequenz einer besonderen Rechtfertigung. Dem Kindesvater ist – sofern keine öffentlichen Interessen dagegensprechen – ein Aufenthaltstitel auch dann zuzusprechen, wenn mit der Kindesmutter kein gemeinsamer Haushalt besteht.

II. Die Aufrechterhaltung des Kontakts zu einem Kleinkind über Telekommunikation und elektronische Medien ist grundsätzlich nicht in einem ausreichenden Ausmaß möglich. Vielmehr ist die Annahme der Aufrechterhaltung des Kontakts über derartige Wege zwischen einem Elternteil und dessen Kleinkind lebensfremd.

III. Obwohl die Nichtbeachtung einer Rückkehrentscheidung und der deshalb (hier: inzwischen sechs Jahre andauernde) illegale Aufenthalt im Bundesgebiet ein fremdenrechtliches Fehlverhalten darstellen, kann die Interessenabwägung dazu führen, dass die privaten und familiären Interessen der betroffenen Person am Verbleib im Bundesgebiet höher sind als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Diese durchzuführende Interessenabwägung ist stets unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

05.07.2023

Veröffentlicht am: 18.12.2023
3195

Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Refoulementverbot) bereits bei Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Straffälligkeit?

Leitsätze
I. Die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU) einerseits und die Frage der Erlassung einer Rückkehrentscheidung andererseits (Art 6 ff RL 2008/115/EG) sind zwei verschiedene rechtliche Fragen. Nur bei Letzterer ist die Vereinbarkeit mit dem Refoulementverbot zu prüfen, die Statusaberkennung kann unabhängig davon erfolgen.

II. Art 5 RL 2008/115/EG ist dahin auszulegen, dass bereits die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegenüber Drittstaatsangehörigen, denen eine Verletzung des Refoulementverbots bei Rückkehr in den Herkunftsstaat droht, unzulässig ist.

III. Es dürfte demnach nicht genügen, entgegen Art 5 RL 2008/115/EG eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und nur die Unzulässigkeit der Abschiebung festzustellen.

Gerichtshof

EuGH / C-663/21

Datum der Entscheidung

06.07.2023

Veröffentlicht am: 15.12.2023
3193

Anmeldebescheinigung garantiert keinen Anspruch auf Ausgleichszulage

Leitsätze
I. Ein aus einem anderen EU-Mitgliedstaat nach Österreich zugezogener Pensionist, der über keine ausreichenden Existenzmittel verfügt, hat keinen Anspruch auf Ausgleichszulage.

II. Das Beantragen von Sozialleistungen (Ausgleichszulage) bedeutet nicht schon per se, dass keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen.

Gerichtshof

OGH / 10 ObS 86/23d

Datum der Entscheidung

24.07.2023

Veröffentlicht am: 14.12.2023
3191

Ab wann "gilt" ein Aufenthaltstitel?

Leitsätze
I. Ein Zweckänderungsantrag gemäß § 2 Abs 1 Z 12 iVm § 26 NAG kann nur während der Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels oder gemäß § 24 Abs 4 erster Satz NAG iVm einem Verlängerungsantrag nur bis zur Erlassung des behördlichen Bescheides gestellt werden.

II. Die Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) des Aufenthaltstitels (als Karte) - im Erteilungsfall - bewirkt idR gleichzeitig den Akt der Zustellung und entsteht die rechtliche Wirkung des Bescheids erst durch diesen Akt. Der bloße Auftrag zur Herstellung einer Aufenthaltstitelkarte bzw deren technische Herstellung selbst entfaltet demgegenüber noch keine Rechtswirkungen.

III. Ohne Ausfolgung der Aufenthaltstitelkarte wird noch kein Aufenthaltstitel erteilt. Ohne Erteilung eines Aufenthaltstitels liegt aber auch keine - in § 2 Abs 1 Z 12 NAG als Voraussetzung für einen Zweckänderungsantrag angesprochene - "Geltung eines Aufenthaltstitels" vor. Somit kann vor der Erteilung eines Aufenthaltstitels noch kein Zweckänderungsantrag gestellt werden. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn ein - vor Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellter - (neuerlicher) Antrag nicht als Zweckänderungsantrag, sondern - allenfalls - als Erstantrag (durch Annahme einer [konkludenten] Zurückziehung des ursprünglichen Antrags) qualifiziert wird.

IV. Dem Antragsteller steht nach den Regelungen des NAG kein Wahlrecht zu, welche Verfahrensvorschriften (diejenigen für Erstanträge oder diejenigen für Zweckänderungsanträge) auf ihn anzuwenden sind.

V. Im Hinblick auf die Belehrungsregelung des § 23 Abs 1 NAG ist auf die VwGH-Rsp zu verweisen, wonach § 23 Abs 1 NAG (lediglich) den Fall regelt, in dem sich aufgrund des Antrags oder im Ermittlungsverfahren ergibt, dass der vom Fremden in Aussicht genommene Aufenthaltszweck mit dem von ihm beantragten Aufenthaltstitel nicht korrespondiert.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2023/22/0073, 0074

Datum der Entscheidung

04.07.2023

Veröffentlicht am: 13.12.2023
3190

Verhältnis von § 1 Abs 2 Z 1 NAG zum Asylrecht

Leitsätze
I. § 1 Abs 2 Z 1 NAG darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist im systematischen Zusammenhang mit weiteren Bezug habenden Bestimmungen des AsylG und des FPG zu sehen und muss auf deren Basis ausgelegt werden.

II. § 52 Abs 2 FPG bezweckt, einem Fremden, der bereits über ein anderes Aufenthaltsrecht (als nach dem AsylG) verfügt, es - bezogen auf das auf anderen Bestimmungen beruhende Aufenthaltsrecht - nicht zum Nachteil gereichen zu lassen, wenn er einen (erfolglosen) Antrag auf internationalen Schutz stellt. Eine solche Sichtweise erscheint auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geboten, weil eine sachliche Rechtfertigung dafür, einem Fremden ein anderweitiges Aufenthaltsrecht allein deshalb zu entziehen, weil er erfolglos einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nicht ohne Weiteres erkennbar ist.

III. Aus den Bestimmungen des § 12 Abs 1 und des § 13 Abs 1 AsylG sowie des § 52 Abs 2 FPG ergibt sich, dass im Fall der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz ein aufgrund des NAG oder eines anderen Bundesgesetzes bereits bestehendes Aufenthaltsrecht unberührt bleibt. Infolgedessen ist die Bestimmung des § 1 Abs 2 Z 1 NAG einschränkend dahingehend auszulegen, dass ein Fremder trotz Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz bei aufrechtem Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach dem NAG weiterhin dem Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes unterliegt.

IV. Eine Zurückweisung gemäß § 1 Abs 2 Z 1 NAG aufgrund der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz kommt nur dann in Betracht, wenn - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des LVwG - ein Aufenthaltsrecht aufgrund des NAG nicht besteht (was insb bei Vorliegen bloß eines Erstantrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG, nicht aber bei einem rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag der Fall ist).

Gerichtshof

VwGH / Ra 2019/22/0170

Datum der Entscheidung

22.06.2023

Veröffentlicht am: 12.12.2023
3189

Neuerlich: Verfahrenswiederaufnahme auch bei Dokumentationen möglich

Leitsätze
I. Einer Dokumentation des Aufenthaltsrechts kann nicht jede Bescheidwirkung abgesprochen werden und ist mangels spezieller Regelungen betreffend die Aufhebung der Rechtswirkungen diesbezüglich ein Anwendungsbereich des § 69 AVG zu bejahen.

II. Die Behörde hat den gegenständlichen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte im wiederaufgenommenen Verfahren zwar "abgewiesen", jedoch ausgehend vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe als Begründungselement im Spruch eine Feststellung iSd § 54 Abs 7 NAG getroffen. Damit wird dem LVwG - bei Abweisung der Beschwerde gegen die Wiederaufnahme - die Möglichkeit eröffnet, ohne Überschreitung der Sache des Beschwerdeverfahrens eine Maßgabebestätigung in Form der Zurückweisung des ursprünglichen Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte samt entsprechender Feststellung gemäß § 54 Abs 7 NAG vorzunehmen. Das gilt sinngemäß auch für den späteren Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte. Ein Vorgehen nach § 55 Abs 3 NAG kommt diesfalls nicht in Betracht.

Gerichtshof

VwGH / Ro 2021/22/0004

Datum der Entscheidung

15.06.2023

Veröffentlicht am: 11.12.2023
3188

Ermittlungspflichten bei Annahme einer besonderen Ausnahmesituation iSd EuGH-Rsp zu Art 20 AEUV

Leitsätze
I. Der (bloße) Wunsch nach einem Aufenthalt in Österreich aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung einer Familiengemeinschaft begründet noch keine Ausnahmesituation iSd EuGH-Rsp zu Art 20 AEUV.

II. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann nach der EuGH-Rsp die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

III. Zur Beurteilung dieses Risikos ist - wenn es (wie hier) um das Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils und dessen Verhältnis zu einem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, geht - entsprechend der EuGH-Rsp zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, besteht. Dabei bildet der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen relevanten Gesichtspunkt. Dieser Umstand allein genügt aber nicht für die Feststellung, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss vielmehr im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen (insb Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, Grad seiner affektiven Bindung an den jeweiligen Elternteil, das mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Elternteil für sein inneres Gleichgewicht verbundene Risiko).

IV. Die für die Anerkennung eines Aufenthaltsrechts auf Grundlage des Art 20 AEUV erforderlichen Informationen sind grundsätzlich vom Drittstaatsangehörigen beizubringen. Dabei entbindet aber auch eine (allfällige) nationale Beweislastregelung die Behörden nicht davon, auf Grundlage der vom Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen zur Klärung der einzelnen maßgeblichen Umstände iSd EuGH-Rsp anzustellen.


Gerichtshof

VwGH / Ra 2019/22/0088

Datum der Entscheidung

07.06.2023

Veröffentlicht am: 07.12.2023
3186

Klaglosstellung des Amtsrevisionswerbers infolge Gegenstandslosigkeit der angefochtenen Verfahrensaussetzung

Leitsätze
I. Nach stRsp des VwGH ist bei einer Revision gemäß Art 133 Abs 1 Z 1 B-VG unter einer "Klaglosstellung" nach § 33 Abs 1 VwGG nicht nur eine solche zu verstehen, die durch eine formelle Aufhebung des beim VwGH angefochtenen Erkenntnisses oder Beschlusses eingetreten ist. Vielmehr liegt ein Einstellungsfall (wegen Gegenstandslosigkeit) insb auch dann vor, wenn der Revisionswerber kein rechtliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung hat und somit materiell klaglos gestellt wurde. Diese Judikatur gilt auch für Fälle einer Amtsrevision.

II. Durch die Aussetzung des Verfahrens wird bis zur Entscheidung, deren Ausgang abgewartet werden soll, die Entscheidungspflicht der Behörde bzw des Gerichts suspendiert. Eine solche Aussetzungsentscheidung verliert ihre Rechtswirksamkeit jedenfalls mit dem Eintritt des Zeitpunkts, bis zu dem die Aussetzung verfügt worden ist. Nach Wegfall der Aussetzungswirkungen ist das Verfahren von der Behörde daher fortzusetzen.

III. Kommt dem angefochtenen Aussetzungsbeschluss keine Rechtswirkung mehr zu, weil der Aussetzungsgrund weggefallen ist, hätte eine diesbezügliche Entscheidung bloß theoretische Bedeutung. Ein rechtliches Interesse des Revisionswerbers an einer meritorischen Erledigung ist nicht mehr gegeben.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0085

Datum der Entscheidung

31.05.2023

Veröffentlicht am: 06.12.2023
3185

Vorübergehender Schutz durch die Vertriebenen-VO und Hemmung von Entscheidungsfristen bei parallelen Verfahren nach dem AsylG

Leitsätze
Kommt der betroffenen Person aufgrund der Vertriebenen-VO vorübergehender Schutz (§ 62 AsylG) zu, so sind nach § 22 Abs 8 AsylG die Entscheidungsfristen bei Verfahren nach dem AsylG (zB bei Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz) für die Dauer des vorübergehenden Schutzes gehemmt. Eine allfällig erhobene Säumnisbeschwerde betreffend den Antrag auf internationalen Schutz ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

06.02.2023

Veröffentlicht am: 05.12.2023
3184

Aussetzung eines Beschwerdeverfahrens aufgrund einer ausstehenden Vorabentscheidung durch den EuGH zur Situation von Frauen in Afghanistan

Leitsätze
I. Sind Fragen zur Vorabentscheidung bereits beim EuGH anhängig und ist die Antwort auf die Fragen etwa auch für das BVwG (im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens) von Bedeutung, so kann das Verfahren gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zum Vorliegen der Vorabentscheidung ausgesetzt werden.

II. Ist in einem Familienverfahren eine ausstehende Vorabentscheidung bloß für eine von mehreren beschwerdeführenden Personen von Relevanz, so betrifft eine etwaige Aussetzung gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG alle Parteien des Verfahrens gleichermaßen.

Gerichtshof

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Datum der Entscheidung

03.02.2023

Veröffentlicht am: 04.12.2023
3187

Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Straffälligkeit (Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU) nicht einzig aufgrund der Verurteilung

Leitsätze
I. Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU verlangt für die Aberkennung des Flüchtlingsstatus zweierlei: Zum einen das Vorliegen einer Verurteilung wegen einer "besonders schweren Straftat" (zum Begriff siehe eigens EuGH 6.7.2023, C-402/22 [M.A.] ECLI:EU:C:2023:543), zum anderen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats seines Aufenthalts darstellt. Aus dem Vorliegen der Verurteilung darf nicht schon auf die Erfüllung des zweiten Kriteriums geschlossen werden, stattdessen sind diesbezüglich eigene behördliche Feststellungen zu treffen.

II. Die "Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats" iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU liegt dann vor, wenn das Verhalten des Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats des Aufenthalts darstellt, mag dies auch nicht so explizit wie in Art 27 Abs 2 UAbs 2 RL 2004/38/EG zum Ausdruck kommen.

III. Durch die Verurteilung wegen einer "besonders schweren Straftat" tritt keine Beweislastumkehr dahingehend ein, dass nunmehr der Drittstaatsangehörige mit Flüchtlingseigenschaft beweisen müsste, dass von ihm keine Gefahr iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU ausgeht.

IV. Die Mitgliedstaaten werden durch Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft lediglich ermächtigt, nicht aber verpflichtet.

V. Bei Aberkennungsentscheidungen iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, mithin die Möglichkeit von Maßnahmen zu prüfen, die die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigen.

Gerichtshof

EuGH / C-8/22

Datum der Entscheidung

06.07.2023

Veröffentlicht am: 01.12.2023
3182

Verweigerung der Ausstellung eines Fremdenpasses stellt Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit dar

Leitsätze
Das Grundrecht auf Ausreisefreiheit erfordert die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen und die Beachtung der Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt".

Gerichtshof

VfGH / E 659/2023 ua

Datum der Entscheidung

28.06.2023

Veröffentlicht am: 30.11.2023
3443

Reisedokumente für die Ausreisefreiheit von Fremden

Leitsätze
Das Grundrecht auf Ausreisefreiheit erfordert die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen und die Beachtung der Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt".

Gerichtshof

VfGH / E 659/2023 ua

Datum der Entscheidung

28.06.2023

Veröffentlicht am: 30.11.2023
3183

Zum Wert der freien Station bei Fehlen regelmäßiger Aufwendungen

Leitsätze
Aus § 11 Abs 5 zweiter und dritter Satz NAG kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Wert der freien Station den Betrag der (in Höhe der Richtsätze des § 293 ASVG) notwendigen Unterhaltsmittel dann schmälert, wenn keine Mietaufwendungen (bzw keine anderen regelmäßigen Aufwendungen) anfallen; eine Anrechnung auf das notwendige Einkommen bei Unterschreitung der Mietkosten bis zur Höhe des Wertes der vollen freien Station ist nicht vorgesehen.

Gerichtshof

VwGH / Ra 2022/22/0036

Datum der Entscheidung

07.06.2023

Veröffentlicht am: 29.11.2023