Fehlende Urkundenbeglaubigung: NAG-Antrag zurück- oder abweisen?
Leitsätze
I. Nach der VwGH-Rsp darf eine Behörde nur dann nach § 13 Abs 3 AVG vorgehen, wenn das Anbringen einen "Mangel" aufweist, also von den der Partei erkennbaren Anforderungen des Materiengesetzes an ein vollständiges, fehlerfreies Anbringen abweicht. Was unter einem Mangel schriftlicher Eingaben iSd § 13 AVG zu verstehen ist, muss der in Betracht kommenden Verwaltungsvorschrift entnommen werden.
II. Das Fehlen von Beilagen, die nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften (Gesetz oder Verordnung) einem Antrag anzuschließen sind, kann einen Mangel iSd § 13 Abs 3 AVG darstellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Art des Nachweises aus dem Gesetz oder der Verordnung hinreichend konkret ersichtlich ist. Existiert eine derartige gesetzliche Anordnung nicht, dann kann die unterlassene Beibringung von Unterlagen, derer die Behörde bedarf und die sie sich nicht selbst beschaffen kann, allenfalls im Rahmen der freien Beweiswürdigung bei der Sachentscheidung Berücksichtigung finden.
III. Von Mängeln eines Anbringens iSd § 13 Abs 3 AVG sind sonstige Unzulänglichkeiten zu unterscheiden, welche nicht die Vollständigkeit des Anbringens betreffen, sondern sonst im Licht der anzuwendenden Vorschriften seine Erfolgsaussichten beeinträchtigen. Ob es sich bei einer im Gesetz umschriebenen Voraussetzung (bzw bei deren Nichterfüllung) aber um einen "Mangel" iSd § 13 Abs 3 AVG oder aber um das (zur Antragsabweisung führende) Fehlen einer Erfolgsvoraussetzung handelt, ist durch die Auslegung der jeweiligen Bestimmung des Materiengesetzes zu ermitteln.
IV. Wurde zu Unrecht die Mangelhaftigkeit des Anbringens angenommen (und wäre in der Sache zu entscheiden gewesen), ist die deshalb ergangene zurückweisende Entscheidung unabhängig davon inhaltlich rechtswidrig, ob der Einschreiter nur eine teilweise oder nur eine verspätete "Verbesserung" vornimmt oder diese gar nicht versucht.
V. Dass eine Geburtsurkunde nach der hier noch maßgeblichen alten Rechtslage (bis 30.9.2022) - anders als nach der aktuellen Regelung des § 7 Abs 1 Z 3 NAG-DV, nach der eine Geburtsurkunde ebenso wie ein Nachweis oder eine Urkunde über das Verwandtschaftsverhältnis nur "erforderlichenfalls" vorzulegen ist - bei allen Erstanträgen jedenfalls vorzulegen war, deutet nicht darauf hin, dass deren Vorlage (in unbeglaubigter Form) lediglich dem Nachweis einer besonderen Erteilungsvoraussetzung dienen sollte. Bei dem somit naheliegenden Verständnis, dass § 7 Abs 1 Z 2 NAG-DV aF eine Regelung betreffend die formale Vollständigkeit eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels enthielt, wäre ein Mängelbehebungsauftrag nach § 13 Abs 3 AVG bezogen auf die Vorlage einer Geburtsurkunde an sich dem Grunde nach möglich gewesen.
VI. Unabhängig davon hat aber die Vorlage einer Urkunde in beglaubigter Form nach der insoweit eindeutigen Bestimmung des § 6 Abs 4 NAG-DV nur auf Verlangen der Behörde zu erfolgen. Ein auf § 6 Abs 4 NAG-DV gestütztes Verlangen nach einer (bereits unbeglaubigt vorgelegten) Urkunde in beglaubigter Form kann daher keinen rechtmäßigen Mängelbehebungsauftrag iSd § 13 Abs 3 AVG darstellen.
VwGH / Ra 2022/22/0010 und Ra 2022/22/0047