Reisebeschränkungen anlässlich COVID-19 vor dem Hintergrund der Freizügigkeit und des Schengener Grenzkodex
Leitsätze
I. Die RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) regelt das Ausreiserecht nicht nur für andere Unionsbürger, sondern auch für die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats, während sie in Hinblick auf das Einreiserecht bloß Regelungen für andere Unionsbürger enthält.
II. Beschränkungen der Freizügigkeit, konkret des Ausreise- und des Einreiserechts (Art 4 und 5 RL 2004/38/EG) sind bereits in Maßnahmen zu erblicken, welche die Ausübung der Rechte weniger attraktiv machen. Zu nennen sind etwa auch Verpflichtungen, sich bei der Einreise zur Eindämmung von COVID-19 Screeningtests oder Quarantänen zu unterziehen.
III. Beschränkungen dieser Rechte zum Schutz der Gesundheit (Art 27 Abs 1 und Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG) dürfen nicht wirtschaftlich motiviert sein und nur aus Anlass einer übertragbaren Krankheit ergehen.
IV. Weder Art 27 Abs 1 noch Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG steht dem Gebrauch allgemein geltender Rechtsatzformen (in Österreich: Verordnungen iSd Art 18 Abs 2 B-VG) für Beschränkungen der Freizügigkeit entgegen. Auch mittels solcher Rechtsakte verfügte Beschränkungen müssen sich auf Rechtfertigungsebene an den Art 30 bis 32 RL 2004/38/EG messen lassen.
V. Den genannten Art 30 bis 32 RL 2004/38/EG ist neben einer staatsgerichteten Pflicht zur Determinierung und Begründung der Maßnahme sowie der Garantie eines Rechtswegs auch ein Verhältnismäßigkeitsgebot zu entnehmen.
VI. Die Freizügigkeit beschränkende Rechtsakte mit allgemeiner Geltung müssen neben dem amtlichen Kundmachungsmedium über eine amtliche mediale Verlautbarung in der Weise mitgeteilt werden (leicht zugänglich und kostenlos), dass Inhalt und Wirkungen des Rechtsakts, die Begründung sowie Rechtsbehelfe und Fristen zu deren Erhebung konkret genannt werden (vgl Art 30 Abs 1 und 2 RL 2004/38/EG).
VII. Der Rechtsbehelf gegen den Rechtsakt muss wenigstens in Form einer inzidenten Bestreitung der Rechtmäßigkeit anlässlich einer Rechtsstreits, in dem er präjudiziell ist, bestehen (vgl Art 31 RL 2004/38/EG; vgl in Österreich die Möglichkeit der direkten Bekämpfung von COVID-19-Verordnungen anlässlich gerichtlicher Verfahren gemäß Art 144 Abs 1 oder Art 139 Abs 1 Z 4 B-VG).
VIII. Dass andere Mitgliedstaaten eine übertragbare Krankheit mit weniger einschneidenden Mitteln bekämpfen, spricht nicht per se gegen die Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen.
IX. Die Mitgliedstaaten müssen, wenn sie beschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen, in der Lage sein, geeignete Beweise beizubringen, um darzulegen, dass sie tatsächlich eine Untersuchung zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen durchgeführt haben, und alle sonstigen Nachweise zu erbringen, die ihre Argumentation stützen können. Eine solche Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass die zuständigen nationalen Behörden positiv belegen müssten, dass sich das legitime Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe.
X. Bei der Eignungsprüfung ist auch das Vorliegen hinreichender Daten zum Zeitpunkt der Erlassung der Maßnahme zu prüfen.
XI. Bei der Erforderlichkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, ob für die Berechtigten wesentliche Reisen erleichtert werden. Das im Gesundheitsschutz anerkannte Vorsorgeprinzip erweitert den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten.
XII. Bei der Adäquanzprüfung (Abwägung des Ziels der Verhinderung der Überlastung der Gesundheitssysteme durch COVID-19 insb mit Art 7 und 16 GRC) ist auch zu würdigen, dass die Ausreiseverbote aufgehoben werden, sobald der Zielmitgliedstaat auf der Grundlage einer regelmäßigen Neubewertung seiner Lage nicht mehr als Hochrisikogebiet eingestuft wird.
XIII. Bei der Prüfung, ob eine gegen COVID-19 gerichtete Maßnahme verbotenen Grenzkontrollen iSd Art 23 VO (EU) 2016/399 gleichkommt, sind die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Lediglich stichprobenartiger Charakter von Kontrollen, Hauptzwecke der Pandemiebekämpfung und nicht der Bekämpfung rechtswidriger Einreisen sowie der gesundheitspolizeilichen Identifizierung und Überwachung Erkrankter, Gefährlichkeit der Krankheit für die Gesundheitssysteme.
XIV. Eine Situation wie die COVID-19-Pandemie mit den Umständen des Jahres 2020 kann als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit iSv Art 25 Abs 1 VO (EU) 2016/399 eingestuft werden, sodass selbst die vorübergehende Wiederaufnahme echter Grenzkontrollen nicht ausgeschlossen erscheint.
XV. Die Prüfung von COVID-19-Reiseregeln am Maßstab der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) sowie der VO (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) nimmt der EuGH nicht selbst vor, sondern überlässt sie unter Maßgabe der oben geschilderten Parameter den nationalen Gerichten.