Dublin-System: Pro Asylantrag ein Merkblatt und ein Gespräch; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der EU
Leitsätze
I. Die Art 4 und 5 Dublin III-VO sowie Art 29 Eurodac-VO beinhalten Verfahrensvorschriften, die der Wahrnehmung der Rechte von Antragstellern dienen, gegen die eine Dublinüberstellungsentscheidung ergehen soll. Konkret sind den Antragstellern Informationen in Form eines Merkblattes auszuhändigen und es ist mit ihnen ein persönliches Gespräch zu führen.
II. Die geschilderten Verfahrensvorschriften (II.) kommen nicht nur beim ersten Antrag in einem EU-Mitgliedstaat, sondern auch bei einem weiteren Antrag auf internationalen Schutz und in den Fällen des Art 17 Abs 1 Eurodac-VO (Abgleich von Fingerabdrücken illegal Aufhältiger) zum Tragen.
III. Soweit das Unionsrecht nicht selbst die Rechtsfolgen einer Verletzung seiner Verfahrensgarantien vorgibt, müssen diese vom Mitgliedstaat unter Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes festgelegt werden.
IV. Art 27 Abs 1 Dublin III-VO (Anspruch auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf) ist dahin auszulegen, dass damit sowohl inhaltliche Rechtswidrigkeiten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats als auch die Verletzung von Verfahrensvorschriften gerügt werden können müssen, inklusive der genannten Informations- und Anhörungspflichten. Hinsichtlich ihrer Verletzung ist zu differenzieren: Ein Vorenthalten des persönlichen Gesprächs (Art 5 Dublin III-VO) muss zur Nichtigerklärung der Überstellungsentscheidung durch das Rechtsbehelfsgericht führen, es sei denn, nach nationalem Recht besteht die Möglichkeit des Antragstellers, im Rechtsbehelfsverfahren alle seine Argumente gegen die Überstellungsentscheidung persönlich vorzubringen, und diese Argumente sind dazu geeignet, etwas an der Überstellungsentscheidung zu ändern. Fand hingegen ein persönliches Gespräch statt, wurden jedoch in dessen Vorfeld die nach Art 4 Dublin III-VO gebotenen Informationen (Formblätter) vorenthalten, so hat das Rechtsbehelfsgericht die Nichtigkeit der Überstellungsentscheidung nur dann auszusprechen, wenn dieser Verfahrensfehler für ihr Zustandekommen wesentlich war.
V. Aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten gilt die Rechtsvermutung, dass Asylanträge in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit GFK und EMRK behandelt werden.
VI. Aufgrund der Bedeutung und der Reichweite des Rechtsbehelfs iSd Art 27 Abs 1 Dublin III-VO ist das Gericht verpflichtet, auf Basis objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Lichte der Grundrechte zu prüfen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
VII. Antragsteller können sich auch auf das Refoulementverbot (insb Art 4 GRC) berufen, wenn keine systematischen Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat, sondern nur hinsichtlich ihres Falls die Gefahr einer diesem Verbot widerstreitenden Behandlung vorliegt. Das Rechtsbehelfsgericht hat aber nur systematische Schwachstellen wahrzunehmen, diese liegen aber nicht schon deshalb vor, weil die Refoulementgefahr abweichend vom ersuchten Mitgliedstaat beurteilt wird. Solange keine systematischen Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat vorliegen, darf das Rechtsbehelfsgericht den ersuchenden Mitgliedstaat auch nicht zum Selbsteintritt (Art 17 Abs 1 Dublin III-VO) zwingen.