Flüchtlingsschutz für Frauen bei geschlechtsspezifischer Verfolgung und Diskriminierung
Leitsätze
I. Art 9 Abs 1 lit b RL 2011/95/EU ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff "Verfolgungshandlung" eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem "Akteur, von dem Verfolgung ausgeht", iSv Art 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden.
II. Insb liegt ein solcher Fall vor bei Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art 1 GRC gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.
II. Art 4 Abs 3 RL 2011/95/EU ist dahin auszulegen, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen iSv Art 9 Abs 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags iSv Art 2 lit h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.
EuGH / C-608/22 und C-609/22