Von Blutfehde betroffene Familienangehörige stellen keine "soziale Gruppe" dar
Leitsätze
I. Der EuGH legte im Urteil vom 27.3.2025, C-217/23, dar, dass sich aus dem Wortlaut von Art 10 Abs 1 lit d Status-RL in sämtlichen Sprachfassungen ergibt, dass die Wahrnehmung der Andersartigkeit der betroffenen Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die in dieser Bestimmung genannte "deutlich abgegrenzte Identität" der Gruppe stellt eine Voraussetzung dar, die nicht getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft, sondern iZm dieser zu beurteilen ist. Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaats, zu bestimmen, welche "umgebende Gesellschaft" iS dieser Bestimmung für die Beurteilung des Vorliegens einer sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, etwa auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands.
II. Die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" muss unabhängig von Verfolgungshandlungen festgestellt werden, die den Mitgliedern dieser Gruppe in ihrem Herkunftsland drohen.
III. Je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen, insb den sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen, können sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen - etwa den Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben oder auch den Umstand, sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern zu identifizieren -, als "einer bestimmten sozialen Gruppe" iSv Art 10 Abs 1 lit d Status-RL zugehörig angesehen werden.
IV. Um als Gruppe anerkannt werden zu können, die im Herkunftsland eine abgegrenzte Identität hat, muss die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet werden, was notwendigerweise erfordert, dass es sich um die Wahrnehmung eines wesentlichen Teils der Individuen dieser Gesellschaft handelt und nicht nur einzelner Akteure, deren Handlungen als Verfolgungshandlungen iSd Status-RL qualifiziert werden können. Anderenfalls würden solche Handlungen ausreichen, um die davon betroffenen Personen als eine "bestimmte soziale Gruppe" anzusehen, was diese Voraussetzung ihrer Wirksamkeit berauben würde.
V. Der Umstand, dass sich Opfer von Verfolgungshandlungen selbst als "andersartig" iSv Art 10 Abs 1 lit d Status-RL betrachten, kann für sich allein nicht ausschlaggebend sein. Ist eine Familie in eine Blutfehde verwickelt, bedeutet der Umstand, dass sich die davon betroffenen Mitglieder der Familie subjektiv als andersartig wahrnehmen, für sich genommen nicht, dass die von ihnen gebildete Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, wie es Art 10 Abs 1 lit d Status-RL erfordert. Es kommt also darauf an, dass eine Gruppe insb aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dass die umgebende Gesellschaft eine Gruppe so wahrnimmt, kann insb durch konkrete Anhaltspunkte wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden, die die Mitglieder der fraglichen Gruppe allgemein betreffen und sie an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft drängen.
VI. Der Umstand, dass einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in ihrem Herkunftsland (Afghanistan) wegen einer auf einem Streit vermögensrechtlicher Natur beruhenden Blutfehde gegen alle oder manche Mitglieder ihrer Familie physische Gewalt bis hin zur Tötung droht, vermag nicht zu begründen, dass dieser Antragsteller einer "bestimmten sozialen Gruppe" iSd Art 10 Abs 1 lit d Status-RL angehört. Einer solchen Person kann folglich auf dieser Grundlage nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden.
VII. Auch einer auf keinem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung durch Private kann asylrelevanter Charakter zukommen. Dies allerdings nur dann, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren.
VIII. Für die Gewährung von Asyl bedarf es stets der Prüfung eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Verfolgungshandlung (oder dem Fehlen von Schutz vor Verfolgung) und einem Verfolgungsgrund iSd GFK. Es kommt nicht darauf an, dass "irgendein" Zusammenhang besteht, sondern dass die Verfolgungshandlung kausal auf einen Verfolgungsgrund iSd GFK - wenn auch nicht notwendigerweise als den alleinigen Grund - zurückzuführen ist.
IX. Bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund ist als Schutzinstrument das Rechtsinstitut des subsidiären Schutzes für den Fall vorgesehen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
X. Mit der vorliegenden Entscheidung wurde vom VwGH der Rechtsanschauung des EuGH und der Verpflichtung zur Durchsetzung des Unionsrechts Rechnung getragen. Wird in einem solchen Fall von einer früheren Rsp abgegangen, bedarf es keiner Befassung eines verstärkten Senates nach § 13 Abs 1 Z 1 VwGG.