Leitsätze
2127
Zur Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch Schwarzarbeit
Leitsätze
I. Wird der Aufenthalt der bzw des Drittstaatsangehörigen durch illegale Beschaffung der Mittel zum Unterhalt finanziert, so ist eindeutig der Unwille, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten, erkennbar. Dieser Umstand stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar und rechtfertigt die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung und die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise. II. Für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch eine bzw einen Drittstaatsangehörigen kommt es nicht darauf an, dass bereits eine strafbare Handlung begangen wurde. Schon die Gefahr, dass die öffentliche Hand finanziell belastet wird, rechtfertigt die Annahme der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. III. Bei der Bemessung der Dauer eines Einreiseverbots ist das bisherige Verhalten von Drittstaatsangehörigen miteinzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit deren Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.
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Entscheidungsdatum: 09.03.2020
Aufbereitet am: 01.10.2020
2126
Verpflichtung zur Neuausstellung einer Aufenthaltskarte (auch) bei Zweifeln am weiteren Bestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts
Leitsätze
I. Ein vermeintliches Abweichen von der VwGH-Rsp zur Auslegung des § 55 Abs 3 NAG hinsichtlich der Frage, ob eine Verpflichtung zur Neuausstellung einer Aufenthaltskarte gegeben ist, kann nicht mit Entscheidungen aufgezeigt werden, die zu einer anderen Bestimmung - gegenständlich zu § 25 NAG - ergangen sind. Die fehlerhafte Bezeichnung (Abweichen von der Rsp statt Fehlen derselben) schadet jedoch nicht. II. Auf eine Rechtsfrage, die das LVwG bei der Zulassung der ordentlichen Revision als grundsätzlich ansah, ist vom VwGH nicht einzugehen, wenn diese Rechtsfrage in der Revision nicht angesprochen wird. III. Der Wortlaut des § 19 Abs 11 letzter Satz NAG enthält keine Hinweise darauf, dass vor der neuerlichen Ausstellung eines Dokumentes das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sei. Hätte der Gesetzgeber eine solche Prüfung vor der neuerlichen Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder einer Aufenthaltskarte vorsehen wollen, hätte er dies zum Ausdruck bringen müssen; ob die Verwaltungsbehörde nach anderen Bestimmungen des NAG ein Verfahren einleiten könnte, berührt die Sache des Verfahrens gemäß § 19 Abs 11 NAG nicht. Dass hingegen das Dokument mit gleicher Geltungsdauer und gleichem Geltungsumfang wie das verlorene oder unbrauchbar gewordene Dokument neuerlich auszustellen ist, weist darauf hin, dass ein Recht nicht neu verliehen oder dessen Vorliegen nicht neu dokumentiert, sondern lediglich ein verlorenes oder unbrauchbar gewordenes Dokument physisch ersetzt werden soll. IV. Das Vorbringen des Revisionswerbers in seiner Zulässigkeitsbegründung, die VwGH-Rsp zu § 25 Abs 1 NAG, wonach auch das VwG zur Einleitung eines aufenthaltsbeendenden Verfahrens durch das BFA zuständig sei, sei auf § 55 Abs 3 NAG zu übertragen, erweist sich als nicht entscheidungsrelevant. Zur Lösung abstrakter Rechtsfragen ist der VwGH aufgrund von Revisionen gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zuständig. V. Die Argumentation des Revisionswerbers zur Systematik des vierten Hauptstückes (gemeint wohl: des zweiten Teiles) des NAG ist schon deshalb nicht zielführend, weil sich der hier relevante § 19 NAG im sechsten Hauptstück des ersten Teiles befindet.
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Entscheidungsdatum: 11.05.2020
Aufbereitet am: 30.09.2020
2125
Zur Verhängung und Aufrechterhaltung der Schubhaft
Leitsätze
I. Hinsichtlich der Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung ist stets zu prüfen, ob eine Abschiebung tatsächlich infrage kommt und infolgedessen, ob eine Abschiebung in der restlichen noch zur Verfügung stehenden Schubhaftdauer bewerkstelligt werden kann. II. Da derzeit geltende Maßnahmen aufgrund des Corona-Virus bloß befristete Hindernisse darstellen, ist (in der gegenständlichen Sache) davon auszugehen, dass eine Abschiebung dennoch innerhalb der gesetzlichen Frist vollzogen werden kann.
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Entscheidungsdatum: 10.04.2020
Aufbereitet am: 29.09.2020
2124
Berücksichtigung von Nebenbeschäftigungen im Rahmen der Einkommensprognose bei Familiennachzug
Leitsätze
I. Selbst wenn die Nebentätigkeit des Ehepartners nur zum Zwecke des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel aufgenommen worden sein sollte, sind die im Rahmen dieser Tätigkeit erzielten Einkünfte grundsätzlich im Rahmen der Prognoseentscheidung gemäß § 11 Abs 5 NAG 2005 zu berücksichtigen. II. Selbst wenn der Ehepartner für einzelne Monate keine Einkünfte aus seiner Nebentätigkeit erzielt haben sollte, sind dennoch die nachgewiesenen Einkünfte im Rahmen der Einkommensprognose zu berücksichtigen.
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Entscheidungsdatum: 30.04.2020
Aufbereitet am: 28.09.2020
2123
Zeitpunkt zur Beurteilung der Minderjährigkeit im Rahmen der Familienzusammenführung
Leitsätze
I. Für die Beurteilung der tatbildlichen Minderjährigkeit, die für die Zulässigkeit eines Antrags auf Familienzusammenführung gemäß Art 4 Abs 1 UAbs 1 lit c RL 2003/86/EG vorliegen muss, kommt es nur auf das Datum der Antragstellung an. Unzulässig ist hingegen ein Abstellen auf das Alter zum Entscheidungsdatum. II. Ein Rechtsbehelf gegen eine Behördenentscheidung über einen solchen Antrag darf vom Rechtsmittelgericht nicht wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses infolge mittlerweile erreichter Volljährigkeit zurückgewiesen werden.
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Entscheidungsdatum: 16.07.2020
Aufbereitet am: 24.09.2020
2122
Zur Zurückweisung eines Antrags gemäß § 55 AsylG aufgrund des Vorliegens einer Rückkehrentscheidung und Fehlens einer maßgeblichen Sachverhaltsänderung
Leitsätze
I. Nach § 58 Abs 10 AsylG ist ein Antrag gemäß § 55 AsylG als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt und aus dem Antragsvorbringen kein geänderter Sachverhalt im Hinblick auf das Privat- und Familienleben iSd § 9 Abs 2 BFA-VG hervorgeht. II. Nach der Rsp des VwGH liegt ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nur dann nicht vor, wenn den geltend gemachten Umständen von vornherein keine derartige Bedeutung zugekommen wäre, die eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art 8 EMRK geboten hätte.
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Entscheidungsdatum: 05.03.2020
Aufbereitet am: 23.09.2020
2121
Absprechen über Antrag auf internationalen Schutz als Voraussetzung einer allfälligen Rückkehrentscheidung
Leitsätze
I. Ohne (rechtskräftige) Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz darf keine Rückkehrentscheidung (iSd § 52 Abs 9 FPG) getroffen werden. II. § 10 Abs 1 AsylG und § 52 Abs 2 FPG sind dahingehend auszulegen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht zulässig ist, bevor über einen Antrag auf internationalen Schutz abgesprochen wurde.
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Entscheidungsdatum: 03.03.2020
Aufbereitet am: 22.09.2020
2120
Covid-19 in Afghanistan
Leitsätze
I. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. II. Ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung.
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Entscheidungsdatum: 23.06.2020
Aufbereitet am: 21.09.2020
2119
Auch aus Art 6 Abs 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 kein Daueraufenthalt - EU ableitbar
Leitsätze
Türkische Staatsangehörige, die ihr Aufenthaltsrecht direkt aus Art 6 Abs 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 ableiten, erfüllen die Voraussetzungen des § 45 Abs 1 NAG zur Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" nicht. Das aus Art 6 Abs 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht ist nämlich insofern eingeschränkt, als es von der Erneuerung der Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber und der Verfügbarkeit eines Arbeitsplatzes bei diesem abhängt. Mit einem Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" wäre hingegen ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden, also eine deutlich weiter gehende Berechtigung (vgl VwGH 23.1.2020, Ro 2019/22/0009). Die in diesem Erkenntnis getroffenen Aussagen sind auf Fälle nach dem zweiten Spiegelstrich des Art 6 Abs 1 ARB 1/80 gleichermaßen anwendbar, weil ein türkischer Staatsangehöriger auch aus dieser Bestimmung noch kein Recht auf einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt ableiten kann (vgl VwGH 6.9.2018, Ro 2018/22/0008).
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Entscheidungsdatum: 22.05.2020
Aufbereitet am: 17.09.2020
2118
Erteilung eines befristeten Aufenthaltsverbots nach Verurteilung wegen Handels mit Suchtgift in beträchtlichen Mengen
Leitsätze
I. Angesichts der zerstörerischen Wirkung von Drogen hat der EGMR Verständnis dafür, wenn die Mitgliedstaaten mit besonderer Härte gegen jene Personen vorgehen, die zur Verbreitung dieses Übels beitragen. II. Bei der Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung gegen das Interesse eines straffällig gewordenen Fremden an einer Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Aufenthaltsstaat sind insb folgende Faktoren zu berücksichtigen: die Art und Schwere der Straftat und das seither an den Tag gelegte Verhalten, die Dauer des bisherigen Aufenthalts, die ua in Sprachkenntnissen und Berufstätigkeit zum Ausdruck kommende Integration, die Bindungen zum Herkunftsstaat und die Chancen auf eine Reintegration in diesem sowie die Möglichkeit zur Aufrechterhaltung des Familienlebens durch eine gemeinsame Ausreise oder im Wege von Besuchen und sonstigen Kontakten. III. Kinder im Alter von sieben, elf und 13 Jahren befinden sich in einem Alter, in dem sie sich im Fall der Übersiedlung in den Herkunftsstaat eines Elternteils an die neue Umgebung anpassen können. IV. Wenn die innerstaatlichen Behörden und Gerichte eine angemessene Interessenabwägung anhand der vom EGMR entwickelten Kriterien vorgenommen und diese ausreichend begründet haben, wird der EGMR idR ihr Ergebnis nicht durch seine eigene Abwägung ersetzen.
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Entscheidungsdatum: 21.07.2020
Aufbereitet am: 16.09.2020
2117
Keine Interessenabwägung nach § 20 Abs 4 NAG
Leitsätze
Gemäß § 20 Abs 4 NAG erlischt das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sich der Fremde länger als zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhält. Diese Rechtswirkung tritt ex lege ein. Eine Interessenabwägung ist nicht vorgesehen.
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Entscheidungsdatum: 11.05.2020
Aufbereitet am: 15.09.2020
2116
Einreiseverbot nicht alleine wegen illegaler Einreise, unbegründeten Asylantrags oder fehlenden Existenzmitteln
Leitsätze
I. Die Stellung eines sich als unbegründet erweisenden Antrags auf internationalen Schutz ist keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Ein Antrag ist auch nicht als missbräuchlich zu qualifizieren, wenn – letztlich nicht glaubhafte – Fluchtgründe vorgebracht werden. II. Der Umstand, dass ein Asylwerber illegal ins Bundesgebiet eingereist ist, vermag für sich noch keine derartige Störung der öffentlichen Ordnung begründen, dass dies ein Einreiseverbot iSd § 53 FPG rechtfertigen würde. Auch ein der illegalen Einreise bis zur Asylantragstellung folgender illegaler Aufenthalt von "rund" zehn Tagen ist nicht als derart der öffentlichen Ordnung widerstreitend zu qualifizieren (unionsrechtskonform im Lichte des Systems der RL 2008/115/EG [RückführungsRL] ausgelegt). III. Die Erfüllung eines der Tatbestände des § 53 Abs 2 FPG (in casu: fehlende Existenzmittel iSd Z 6 leg cit) hat bloße Indizwirkung und reicht für sich alleine genommen nicht aus, um ein befristetes Einreiseverbot ohne die geforderte Einzelfallprüfung zu verhängen. IV. Für die Verhängung eines Einreiseverbots ist eine individuelle Gefährdungsprognose mit insb spezialpräventiven Gesichtspunkten ausschlaggebend.
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Entscheidungsdatum: 02.06.2020
Aufbereitet am: 15.09.2020
2115
Verfolgungsgefahr für Uiguren, die der Mitgliedschaft in islamistischen Vereinigungen verdächtigt werden, im Fall ihrer Rückkehr nach China
Leitsätze
I. Art 3 EMRK steht einer Abschiebung sowohl bei einem individuellen Risiko einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Misshandlung entgegen als auch dann, wenn dieses Risiko aus einer generellen Situation resultiert. Eine generelle Situation der Gewalt in einem Land schafft jedoch nur in Extremfällen ein reales Risiko einer Misshandlung für jede dorthin abgeschobene Person. II. Angesichts der Bedrohung für die Bevölkerung, die von terroristischen Vereinigungen ausgeht, ist es legitim, wenn die Behörden hart gegen Personen vorgeht, die sich an solchen Aktivitäten beteiligen. Allerdings gilt das absolute Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe auch im Hinblick auf Personen, denen Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen werden. Daher dürfen auch solche Personen unter keinen Umständen in ein Land abgeschoben werden, in denen ihnen eine gegen Art 3 EMRK verstoßende Behandlung droht. Daher spielen Überlegungen hinsichtlich einer etwaigen Bedrohung der nationalen Sicherheit durch den Aufenthalt solcher Personen keine Rolle im Hinblick auf die Zulässigkeit ihrer Abschiebung in ein Land, in dem eine solche Behandlung droht. III. Berichte internationaler Organisationen zeigen, dass die chinesischen Behörden hunderttausende, wenn nicht Millionen von Uiguren in "Umerziehungslagern" anhalten, wo es zu zahlreichen Fällen von Misshandlungen und Folter kommt. Nach Berichten des US State Department wurden einige Gefangene von den Sicherheitsbehörden getötet. Für Uiguren, die aus dem Ausland nach China zurückkehren, besteht eine besondere Gefahr, in einem "Umerziehungslager" inhaftiert zu werden. Die Unterdrückung der Uiguren wird seitens Chinas insb unter Verweis auf die Notwendigkeit der Unterdrückung von Terrorismus und Extremismus gerechtfertigt. IV. Für Uiguren, die aus China geflohen sind und wie die Beschwerdeführer unter Verdacht stehen, Verbindungen zu terroristischen Vereinigungen zu haben, bestehen im Fall der Rückkehr nach China stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos, willkürliche Freiheitsentziehung, Misshandlung, Folter und sogar den Tod zu erleiden.
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Entscheidungsdatum: 20.02.2020
Aufbereitet am: 14.09.2020
2114
Zurückweisung Schutzsuchender an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen trotz Ersuchen um internationalen Schutz und entgegen der Empfehlungen des EGMR
Leitsätze
I. Personen, die sich an einem Grenzübergang an die Beamten eines Mitgliedstaats wenden und um Einreise und internationalen Schutz ersuchen, stehen iSv Art 1 EMRK unter der Hoheitsgewalt dieses Staates. II. Ein Rechtsbehelf ist im Hinblick auf eine behauptete Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK nur dann effektiv iSv Art 35 EMRK, wenn er automatische aufschiebende Wirkung hat und dadurch geeignet ist, die Durchführung von Maßnahmen zu verhindern, die gegen die EMRK verstoßen und deren Wirkungen potenziell irreversibel sind. III. Aus Art 3 EMRK resultiert eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, an der Grenze um Einreise und internationalen Schutz ersuchende Personen nicht zurückzuweisen, sondern ihnen die Einreise zu erlauben und ihnen bis zur Entscheidung über ihre Asylanträge den Aufenthalt zu gestatten. IV. Unter einer Kollektivausweisung iSv Art 4 4. ZPEMRK ist jede Maßnahme zu verstehen, die Fremde als Gruppe zum Verlassen eines Landes zwingt, ohne dass eine vernünftige und sachliche Prüfung des besonderen Falls jedes einzelnen der Gruppe angehörenden Fremden durchgeführt wurde. V. Der in Art 4 4.ZPEMRK verwendete Begriff der "Ausweisung" ist in seiner allgemeinen Bedeutung zu verstehen und umfasst jede Maßnahme, durch die ein Fremder zum Verlassen des Landes gezwungen wird. VI. Art 4 4.ZPEMRK ist auch auf Personen anwendbar, die an einer Landgrenze um Einreise und internationalen Schutz ersuchen. VII. Die Tatsache, dass zu mehreren Fremden gleichlautende Entscheidungen ergehen, begründet für sich alleine noch keine Kollektivausweisung. Entscheidend ist, ob jeder Einzelne die Gelegenheit hatte, Argumente gegen seine Ausweisung vorzubringen. Eine individuelle Befragung muss nicht unbedingt stattfinden. Eine Kollektivausweisung liegt vor, wenn in den Entscheidungen auf die vorgebrachte Furcht vor Verfolgung überhaupt nicht eingegangen wird. VIII. Die polnischen Behörden verfolgen an der Grenze zu Weißrussland eine umfassende Politik, keine Anträge auf internationalen Schutz entgegenzunehmen und Schutzsuchende ohne angemessene Einzelfallentscheidungen nach Weißrussland zurückzuweisen. IX. Es begründet eine Verletzung von Art 34 EMRK, wenn ein Staat entgegen einer Empfehlung des EGMR Schutzsuchende an der Grenze zurückschickt, anstatt ihnen die Einreise und bis zur Entscheidung über die Asylanträge den Aufenthalt zu gestatten.
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Entscheidungsdatum: 23.07.2020
Aufbereitet am: 10.09.2020
2113
Ausweisung einer Gruppe von Migranten nach dem Grenzübertritt mit gleichlautenden Entscheidungen nach einer kurzen Befragung
Leitsätze
I. Ein Anwalt, der vor dem EGMR die Beschwerdeführer vertritt, muss eine schriftliche Vollmacht vorlegen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass während des Verfahrens weiterhin Kontakt zwischen dem Vertreter und den Beschwerdeführern besteht. Andernfalls kann der EGMR die Beschwerde aufgrund der Annahme, der Beschwerdeführer hätte kein Interesse mehr an ihrer Behandlung, aus dem Register streichen. Der EGMR lässt jedoch die im Allgemeinen prekäre Situation von Asylwerbern nicht außer Acht, die eine Kommunikation zwischen ihnen und ihren Vertretern verhindern kann. Der Kontakt kann daher auch über Kanäle wie Facebook erfolgen, solange eine tatsächliche Kommunikation nachweisbar ist und der Vertreter insb über den Aufenthaltsort informiert ist und auf ein weiteres Interesse an der Rechtssache geschlossen werden kann. II. Eine Ausweisung ist als kollektiv und damit als Verstoß gegen Art 4 4.ZPEMRK anzusehen, wenn Fremde als Gruppe zum Verlassen des Landes gezwungen werden, ohne dass eine vernünftige und sachliche Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe vorgenommen wurde. Entscheidend ist dabei, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe die Gelegenheit hatte, Argumente gegen seine Ausweisung vorzubringen. Eine individuelle Befragung muss nicht zwingend stattfinden. III. Das Vorliegen weitgehend identer individueller Entscheidungen lässt nicht zwingend auf eine Kollektivausweisung schließen. Sie kann auch dadurch erklärt werden, dass keine individuellen Gründe für eine Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat vorgebracht wurden und auch sonst keine Anzeichen für eine Verfolgungsgefahr vorliegen. Gleichlautende Entscheidungen können auch darauf zurückgeführt werden, dass die Mitglieder einer Gruppe eine sehr ähnliche Reise hinter sich haben und aus denselben Gründen ihren Herkunftsstaat verlassen haben. IV. Die Probleme, mit denen die Mitgliedstaaten beim Umgang mit Migrationsströmen konfrontiert sein können, rechtfertigt nicht den Rückgriff auf Praktiken, die nicht mit der Konvention und ihren Protokollen vereinbar sind.
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Entscheidungsdatum: 24.03.2020
Aufbereitet am: 09.09.2020
2112
Erneut zur Berechnung der Unterhaltsmittel und zur Zweckwidmung der Familienbeihilfe
Leitsätze
I. Aus § 11 Abs 5 NAG ergibt sich, dass der Nachweis notwendiger Unterhaltsmittel auch durch das Bestehen von Unterhaltsansprüchen erbracht werden kann. Der Unterhaltsanspruch kann sowohl aus einem gesetzlichen, etwa familienrechtlichen, als auch aus einem vertraglichen Titel herrühren. II. Die Berücksichtigung der - den Wert der freien Station nach § 292 Abs 3 zweiter Satz ASVG übersteigenden - monatlichen Mietbelastungen sowie der Kreditraten als einkommensmindernd im Rahmen der Beurteilung gemäß § 11 Abs 2 Z 4 iVm Abs 5 NAG entspricht der Rechtslage und ist nicht zu beanstanden. III. Der Grundbetrag der Familienbeihilfe wird gewährt, um einen Beitrag zu den Aufwendungen zu leisten, die mit dem Kindesunterhalt im Allgemeinen verbunden sind, und die Familienbeihilfe dient ausschließlich der Versorgung, Erziehung und Berufsausbildung der Kinder. Nach dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck ist die Familienbeihilfe ausschließlich für jene Person zu verwenden, für die sie bezahlt wird, und ist daher nicht bei der Prüfung des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel für den Fremden zu berücksichtigen. IV. Der notwendige Unterhalt kann grundsätzlich auch durch ein Sparguthaben gedeckt werden, wobei solche Guthaben nicht aus illegalen Quellen stammen dürfen. Weder die unbekannte Herkunft des Geldes noch von der Behörde geäußerte Bedenken hinsichtlich der Verfügbarkeit dieser Mittel für die Bestreitung des Lebensunterhalts des Fremden reichen aus, diesen Beträgen die Eigenschaft abzusprechen, zum Unterhalt des Fremden herangezogen werden zu können. V. Eine geringfügige Unterschreitung des erforderlichen Richtsatzes hat nicht jedenfalls zur Folge, dass der Aufenthalt des Fremden zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft iSd § 11 Abs 2 Z 4 iVm Abs 5 NAG führen könnte. VI. Die Unterschreitung des vorgegebenen Mindesteinkommens darf nicht ohne konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers die Ablehnung der Familienzusammenführung zur Folge haben (vgl EuGH 4.3.2010, Chakroun, C-578/08). Bei der so gebotenen individuellen Prüfung, ob der Lebensunterhalt trotz Unterschreitens der gesetzlich normierten Richtsätze gesichert ist, ist der Umstand, dass der Richtsatz nur geringfügig unterschritten wird, ebenso beachtlich wie niedrige Mietkosten.
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Entscheidungsdatum: 25.05.2020
Aufbereitet am: 08.09.2020
2111
Grenzen der Belehrungspflicht nach § 23 Abs 1 NAG
Leitsätze
I. Die Bestimmung des § 23 Abs 1 NAG kann nur eingreifen, wenn sich im Verfahren Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der beantragte Aufenthaltstitel für den tatsächlich beabsichtigten Aufenthaltszweck nicht geeignet ist. II. Der Umstand, dass Studenten zur Finanzierung ihres Studiums erwerbstätig sind, ist nicht ungewöhnlich; daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sie - entgegen ihres ausdrücklich geäußerten Aufenthaltszwecks - einen anderen Aufenthaltstitel anstreben. Es obliegt nämlich dem Antragsteller, den Grund seines Aufenthaltes bekannt zu geben. III. § 23 Abs 1 NAG enthält keine Verpflichtung der Behörde, einen Fremden darüber belehren zu müssen, ob ihm allenfalls ein für ihn "vorteilhafterer" Aufenthaltstitel erteilt werden könnte.
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Entscheidungsdatum: 05.05.2020
Aufbereitet am: 07.09.2020
2110
Auf Dauer unzulässige Rückkehrentscheidung aufgrund mangelnder Möglichkeit zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens zwischen Elternteil und einem Kleinkind
Leitsätze
I. Bei jeder Rückkehrentscheidung ist auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK Bedacht zu nehmen und eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen vorzunehmen. II. Sofern eine Fortsetzung des Familienlebens durch eine verfügte Ausweisung aus dem Bundesgebiet ausgeschlossen erscheint, ist der damit verbundene Eingriff in das Recht auf Familienleben als besonders intensiv zu betrachten. III. Die Annahme, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem ausgewiesenen Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne, wird vom VfGH als lebensfremd erachtet.
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Entscheidungsdatum: 24.03.2020
Aufbereitet am: 03.09.2020
2109
§ 2 Abs 1 Z 22 AsylG 2005 wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben
Leitsätze
Die Legaldefinition des Familienangehörigen in § 2 Abs 1 Z 22 AsylG 2005 ist mangels Möglichkeit der Ableitung des Schutzstatus des gesetzlichen Vertreters auf ein minderjähriges Kind trotz einem – bereits vor der Einreise bestehenden – Eltern-Kind-ähnlichen Verhältnis unsachlich und daher wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben.
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Entscheidungsdatum: 26.06.2020
Aufbereitet am: 02.09.2020
2108
Strenge Antragsbindung im Anwendungsbereich des NAG
Leitsätze
Indem das LVwG davon ausging, allein durch die Vorlage der Schulbestätigung hätte der Mitbeteiligte zu erkennen gegeben, dass er seinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Student nicht mehr aufrecht halte und nunmehr einen anderen als den beantragten Aufenthaltstitel begehre, änderte es eigenmächtig den vom Mitbeteiligten durch Antrag bestimmten Verfahrensgegenstand. Eine solche amtswegige Umdeutung widerspricht jedoch der in § 19 Abs 2 NAG normierten Antragsbindung.
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Entscheidungsdatum: 30.04.2020
Aufbereitet am: 01.09.2020