Leitsätze
2887
Beurteilungskriterien hinsichtlich des Vorliegens eines schützenswerten Familienlebens
Leitsätze
I. Es bedarf einer Prüfung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren; die bloße Aufenthaltsdauer ist nicht allein maßgeblich. II. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären und sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen. III. Zwischen Eltern und volljährigen Kindern besteht kein Familienleben, solange nicht zusätzliche Elemente der Abhängigkeit nachgewiesen werden.
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Entscheidungsdatum: 19.05.2023
Aufbereitet am: 21.12.2023
2886
Bewertungsmaßstäbe an ein gesteigertes Vorbringen im Asylverfahren
Leitsätze
I. Nach stRsp des VwGH ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubwürdig anzusehen, sondern muss vielmehr den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden, zumal es der Lebenserfahrung entspricht, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit idR am nächsten kommen. II. Vorgebrachte Fluchtgründe sind nach der Judikatur dann nicht als glaubhaft anzusehen, wenn der Asylwerber diese im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Abläufen oder tatsächlichen Verhältnissen und Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Verfahrens vorgebracht werden.
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Entscheidungsdatum: 19.05.2023
Aufbereitet am: 20.12.2023
2885
Zur rechtlichen Einordnung des verschuldeten Nichtbesuchs bzw Abbruchs eines Deutschkurses durch Sozialhilfe-Bezugsberechtigte
Leitsätze
I. § 16c Abs 1 IntG führt hinsichtlich der dort genannten Personengruppen während des aufrechten Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe, die an die Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft geknüpft sind, eine Pflicht "zur vollständigen Teilnahme, zur gehörigen Mitwirkung und zum Abschluss eines Werte- und Orientierungskurses gemäß § 5 bzw. § 16a" IntG an, ohne - wie etwa § 6 Abs 1 IntG - auf eine gleichlautende Verpflichtung in Ansehung der in § 4 IntG geregelten Deutschkurse Bezug zu nehmen. Gleichzeitig wird in § 16c Abs 1 IntG allerdings normiert, dass die Betreffenden "der Pflicht zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds" unterliegen. Bereits aus dem Wortlaut des § 16c Abs 1 IntG ergibt sich somit unmissverständlich, dass die dort genannten Personen während des aufrechten Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe, die an die Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft geknüpft sind, der Pflicht zur Absolvierung der genannten Prüfung unterliegen. Eine Frist zur Absolvierung dieser Prüfung sieht diese Bestimmung nicht vor. Wurde diese Prüfung nicht absolviert, liegt demnach ein Verstoß gegen die genannte Pflicht nach §16c Abs 1 IntG vor. II. Die B1-Integrationsprüfung, hinsichtlich der § 16d letzter Satz IntG eine sinngemäße Anwendung des § 12 IntG normiert, umfasst nach § 12 Abs 2 IntG Sprach- und Werteinhalte, wobei mit der Prüfung auch festzustellen ist, ob der Betreffende "über vertiefte Kenntnisse der deutschen Sprache zur selbständigen Sprachverwendung auf dem Sprachniveau B1 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen" verfügt. Bei der Beurteilung der Frage, ob dem Bezieher von Leistungen der Sozialhilfe ein schuldhafter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Absolvierung der genannten Prüfung iSd § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG anzulasten ist, kann das Verhalten des Betreffenden in Ansehung von (vorgelagerten) Deutschkursen, die erst dem Erwerb jener Sprachkenntnisse dienen sollen, der eine Absolvierung der genannten Prüfung ermöglicht, aber nicht von vornherein ausgeblendet werden. Dieses Verhalten ist vielmehr im Rahmen der - einzelfallbezogenen - Beurteilung, ob ein schuldhafter Verstoß gegen die Pflicht gemäß § 16c Abs 1 IntG zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung iSd § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG vorliegt, zu berücksichtigen. Werden angebotene Deutschkurse vom Hilfeempfänger ohne ausreichende Begründung nicht besucht oder abgebrochen, kann jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass eine schuldhafte Verletzung der Pflicht gemäß § 16c Abs 1 IntG zur Absolvierung einer B1-Integrationsprüfung nicht vorliegt. Ein derartiges Verständnis ergibt sich auch aus den Materialien zu § 9 Sozialhilfe-GrundsatzG bzw § 8b Abs 3 Sbg SozialunterstützungsG. III. Der bloß unregelmäßige Besuch bzw Abbruch eines Deutschkurses kann eine Verweigerung der Teilnahme an einer Maßnahme zur Verbesserung der Integrationsfähigkeit in den Arbeitsmarkt iSd § 8b Abs 1 Z 2 lit c Sbg SozialunterstützungsG darstellen. IV. § 8b Abs 3 letzter Satz Sbg SozialunterstützungsG sieht vor, dass dann, wenn neben einem Verstoß gegen § 16c Abs 1 IntG auch ein solcher gemäß § 8b Abs 1 Sbg SozialunterstützungsG vorliegt, die Kürzungsstufen des § 8b Abs 2 Sbg SozialunterstützungsG für die Dauer der gleichzeitigen Pflichtverstöße gelten.
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Entscheidungsdatum: 24.01.2023
Aufbereitet am: 19.12.2023
2884
Aufenthaltsrecht aufgrund des Anspruchs eines Kleinkindes auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen
Leitsätze
I. Kinder haben einen Anspruch auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen (Kindeswohl). Wird ein Kind aufgrund einer Rückkehrentscheidung gegen den Vater gezwungen, ohne diesen aufzuwachsen, so bedarf diese Konsequenz einer besonderen Rechtfertigung. Dem Kindesvater ist – sofern keine öffentlichen Interessen dagegensprechen – ein Aufenthaltstitel auch dann zuzusprechen, wenn mit der Kindesmutter kein gemeinsamer Haushalt besteht. II. Die Aufrechterhaltung des Kontakts zu einem Kleinkind über Telekommunikation und elektronische Medien ist grundsätzlich nicht in einem ausreichenden Ausmaß möglich. Vielmehr ist die Annahme der Aufrechterhaltung des Kontakts über derartige Wege zwischen einem Elternteil und dessen Kleinkind lebensfremd. III. Obwohl die Nichtbeachtung einer Rückkehrentscheidung und der deshalb (hier: inzwischen sechs Jahre andauernde) illegale Aufenthalt im Bundesgebiet ein fremdenrechtliches Fehlverhalten darstellen, kann die Interessenabwägung dazu führen, dass die privaten und familiären Interessen der betroffenen Person am Verbleib im Bundesgebiet höher sind als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Diese durchzuführende Interessenabwägung ist stets unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.
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Entscheidungsdatum: 05.07.2023
Aufbereitet am: 18.12.2023
2883
Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Refoulementverbot) bereits bei Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Straffälligkeit?
Leitsätze
I. Die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU) einerseits und die Frage der Erlassung einer Rückkehrentscheidung andererseits (Art 6 ff RL 2008/115/EG) sind zwei verschiedene rechtliche Fragen. Nur bei Letzterer ist die Vereinbarkeit mit dem Refoulementverbot zu prüfen, die Statusaberkennung kann unabhängig davon erfolgen. II. Art 5 RL 2008/115/EG ist dahin auszulegen, dass bereits die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegenüber Drittstaatsangehörigen, denen eine Verletzung des Refoulementverbots bei Rückkehr in den Herkunftsstaat droht, unzulässig ist. III. Es dürfte demnach nicht genügen, entgegen Art 5 RL 2008/115/EG eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und nur die Unzulässigkeit der Abschiebung festzustellen.
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Entscheidungsdatum: 06.07.2023
Aufbereitet am: 15.12.2023
2882
Anmeldebescheinigung garantiert keinen Anspruch auf Ausgleichszulage
Leitsätze
I. Ein aus einem anderen EU-Mitgliedstaat nach Österreich zugezogener Pensionist, der über keine ausreichenden Existenzmittel verfügt, hat keinen Anspruch auf Ausgleichszulage. II. Das Beantragen von Sozialleistungen (Ausgleichszulage) bedeutet nicht schon per se, dass keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen.
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Entscheidungsdatum: 24.07.2023
Aufbereitet am: 14.12.2023
2881
Ab wann "gilt" ein Aufenthaltstitel?
Leitsätze
I. Ein Zweckänderungsantrag gemäß § 2 Abs 1 Z 12 iVm § 26 NAG kann nur während der Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels oder gemäß § 24 Abs 4 erster Satz NAG iVm einem Verlängerungsantrag nur bis zur Erlassung des behördlichen Bescheides gestellt werden. II. Die Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) des Aufenthaltstitels (als Karte) - im Erteilungsfall - bewirkt idR gleichzeitig den Akt der Zustellung und entsteht die rechtliche Wirkung des Bescheids erst durch diesen Akt. Der bloße Auftrag zur Herstellung einer Aufenthaltstitelkarte bzw deren technische Herstellung selbst entfaltet demgegenüber noch keine Rechtswirkungen. III. Ohne Ausfolgung der Aufenthaltstitelkarte wird noch kein Aufenthaltstitel erteilt. Ohne Erteilung eines Aufenthaltstitels liegt aber auch keine - in § 2 Abs 1 Z 12 NAG als Voraussetzung für einen Zweckänderungsantrag angesprochene - "Geltung eines Aufenthaltstitels" vor. Somit kann vor der Erteilung eines Aufenthaltstitels noch kein Zweckänderungsantrag gestellt werden. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn ein - vor Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellter - (neuerlicher) Antrag nicht als Zweckänderungsantrag, sondern - allenfalls - als Erstantrag (durch Annahme einer [konkludenten] Zurückziehung des ursprünglichen Antrags) qualifiziert wird. IV. Dem Antragsteller steht nach den Regelungen des NAG kein Wahlrecht zu, welche Verfahrensvorschriften (diejenigen für Erstanträge oder diejenigen für Zweckänderungsanträge) auf ihn anzuwenden sind. V. Im Hinblick auf die Belehrungsregelung des § 23 Abs 1 NAG ist auf die VwGH-Rsp zu verweisen, wonach § 23 Abs 1 NAG (lediglich) den Fall regelt, in dem sich aufgrund des Antrags oder im Ermittlungsverfahren ergibt, dass der vom Fremden in Aussicht genommene Aufenthaltszweck mit dem von ihm beantragten Aufenthaltstitel nicht korrespondiert.
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Entscheidungsdatum: 04.07.2023
Aufbereitet am: 13.12.2023
2880
Verhältnis von § 1 Abs 2 Z 1 NAG zum Asylrecht
Leitsätze
I. § 1 Abs 2 Z 1 NAG darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist im systematischen Zusammenhang mit weiteren Bezug habenden Bestimmungen des AsylG und des FPG zu sehen und muss auf deren Basis ausgelegt werden. II. § 52 Abs 2 FPG bezweckt, einem Fremden, der bereits über ein anderes Aufenthaltsrecht (als nach dem AsylG) verfügt, es - bezogen auf das auf anderen Bestimmungen beruhende Aufenthaltsrecht - nicht zum Nachteil gereichen zu lassen, wenn er einen (erfolglosen) Antrag auf internationalen Schutz stellt. Eine solche Sichtweise erscheint auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geboten, weil eine sachliche Rechtfertigung dafür, einem Fremden ein anderweitiges Aufenthaltsrecht allein deshalb zu entziehen, weil er erfolglos einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nicht ohne Weiteres erkennbar ist. III. Aus den Bestimmungen des § 12 Abs 1 und des § 13 Abs 1 AsylG sowie des § 52 Abs 2 FPG ergibt sich, dass im Fall der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz ein aufgrund des NAG oder eines anderen Bundesgesetzes bereits bestehendes Aufenthaltsrecht unberührt bleibt. Infolgedessen ist die Bestimmung des § 1 Abs 2 Z 1 NAG einschränkend dahingehend auszulegen, dass ein Fremder trotz Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz bei aufrechtem Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach dem NAG weiterhin dem Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes unterliegt. IV. Eine Zurückweisung gemäß § 1 Abs 2 Z 1 NAG aufgrund der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz kommt nur dann in Betracht, wenn - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des LVwG - ein Aufenthaltsrecht aufgrund des NAG nicht besteht (was insb bei Vorliegen bloß eines Erstantrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG, nicht aber bei einem rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag der Fall ist).
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Entscheidungsdatum: 22.06.2023
Aufbereitet am: 12.12.2023
2879
Neuerlich: Verfahrenswiederaufnahme auch bei Dokumentationen möglich
Leitsätze
I. Einer Dokumentation des Aufenthaltsrechts kann nicht jede Bescheidwirkung abgesprochen werden und ist mangels spezieller Regelungen betreffend die Aufhebung der Rechtswirkungen diesbezüglich ein Anwendungsbereich des § 69 AVG zu bejahen. II. Die Behörde hat den gegenständlichen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte im wiederaufgenommenen Verfahren zwar "abgewiesen", jedoch ausgehend vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe als Begründungselement im Spruch eine Feststellung iSd § 54 Abs 7 NAG getroffen. Damit wird dem LVwG - bei Abweisung der Beschwerde gegen die Wiederaufnahme - die Möglichkeit eröffnet, ohne Überschreitung der Sache des Beschwerdeverfahrens eine Maßgabebestätigung in Form der Zurückweisung des ursprünglichen Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte samt entsprechender Feststellung gemäß § 54 Abs 7 NAG vorzunehmen. Das gilt sinngemäß auch für den späteren Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte. Ein Vorgehen nach § 55 Abs 3 NAG kommt diesfalls nicht in Betracht.
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Entscheidungsdatum: 15.06.2023
Aufbereitet am: 11.12.2023
2878
Ermittlungspflichten bei Annahme einer besonderen Ausnahmesituation iSd EuGH-Rsp zu Art 20 AEUV
Leitsätze
I. Der (bloße) Wunsch nach einem Aufenthalt in Österreich aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung einer Familiengemeinschaft begründet noch keine Ausnahmesituation iSd EuGH-Rsp zu Art 20 AEUV. II. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann nach der EuGH-Rsp die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. III. Zur Beurteilung dieses Risikos ist - wenn es (wie hier) um das Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils und dessen Verhältnis zu einem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, geht - entsprechend der EuGH-Rsp zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, besteht. Dabei bildet der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen relevanten Gesichtspunkt. Dieser Umstand allein genügt aber nicht für die Feststellung, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss vielmehr im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen (insb Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, Grad seiner affektiven Bindung an den jeweiligen Elternteil, das mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Elternteil für sein inneres Gleichgewicht verbundene Risiko). IV. Die für die Anerkennung eines Aufenthaltsrechts auf Grundlage des Art 20 AEUV erforderlichen Informationen sind grundsätzlich vom Drittstaatsangehörigen beizubringen. Dabei entbindet aber auch eine (allfällige) nationale Beweislastregelung die Behörden nicht davon, auf Grundlage der vom Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen zur Klärung der einzelnen maßgeblichen Umstände iSd EuGH-Rsp anzustellen.
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Entscheidungsdatum: 07.06.2023
Aufbereitet am: 07.12.2023
2877
Klaglosstellung des Amtsrevisionswerbers infolge Gegenstandslosigkeit der angefochtenen Verfahrensaussetzung
Leitsätze
I. Nach stRsp des VwGH ist bei einer Revision gemäß Art 133 Abs 1 Z 1 B-VG unter einer "Klaglosstellung" nach § 33 Abs 1 VwGG nicht nur eine solche zu verstehen, die durch eine formelle Aufhebung des beim VwGH angefochtenen Erkenntnisses oder Beschlusses eingetreten ist. Vielmehr liegt ein Einstellungsfall (wegen Gegenstandslosigkeit) insb auch dann vor, wenn der Revisionswerber kein rechtliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung hat und somit materiell klaglos gestellt wurde. Diese Judikatur gilt auch für Fälle einer Amtsrevision. II. Durch die Aussetzung des Verfahrens wird bis zur Entscheidung, deren Ausgang abgewartet werden soll, die Entscheidungspflicht der Behörde bzw des Gerichts suspendiert. Eine solche Aussetzungsentscheidung verliert ihre Rechtswirksamkeit jedenfalls mit dem Eintritt des Zeitpunkts, bis zu dem die Aussetzung verfügt worden ist. Nach Wegfall der Aussetzungswirkungen ist das Verfahren von der Behörde daher fortzusetzen. III. Kommt dem angefochtenen Aussetzungsbeschluss keine Rechtswirkung mehr zu, weil der Aussetzungsgrund weggefallen ist, hätte eine diesbezügliche Entscheidung bloß theoretische Bedeutung. Ein rechtliches Interesse des Revisionswerbers an einer meritorischen Erledigung ist nicht mehr gegeben.
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Entscheidungsdatum: 31.05.2023
Aufbereitet am: 06.12.2023
2876
Vorübergehender Schutz durch die Vertriebenen-VO und Hemmung von Entscheidungsfristen bei parallelen Verfahren nach dem AsylG
Leitsätze
Kommt der betroffenen Person aufgrund der Vertriebenen-VO vorübergehender Schutz (§ 62 AsylG) zu, so sind nach § 22 Abs 8 AsylG die Entscheidungsfristen bei Verfahren nach dem AsylG (zB bei Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz) für die Dauer des vorübergehenden Schutzes gehemmt. Eine allfällig erhobene Säumnisbeschwerde betreffend den Antrag auf internationalen Schutz ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
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Entscheidungsdatum: 06.02.2023
Aufbereitet am: 05.12.2023
2875
Aussetzung eines Beschwerdeverfahrens aufgrund einer ausstehenden Vorabentscheidung durch den EuGH zur Situation von Frauen in Afghanistan
Leitsätze
I. Sind Fragen zur Vorabentscheidung bereits beim EuGH anhängig und ist die Antwort auf die Fragen etwa auch für das BVwG (im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens) von Bedeutung, so kann das Verfahren gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zum Vorliegen der Vorabentscheidung ausgesetzt werden. II. Ist in einem Familienverfahren eine ausstehende Vorabentscheidung bloß für eine von mehreren beschwerdeführenden Personen von Relevanz, so betrifft eine etwaige Aussetzung gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG alle Parteien des Verfahrens gleichermaßen.
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Entscheidungsdatum: 03.02.2023
Aufbereitet am: 04.12.2023
2874
Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Straffälligkeit (Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU) nicht einzig aufgrund der Verurteilung
Leitsätze
I. Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU verlangt für die Aberkennung des Flüchtlingsstatus zweierlei: Zum einen das Vorliegen einer Verurteilung wegen einer "besonders schweren Straftat" (zum Begriff siehe eigens EuGH 6.7.2023, C-402/22 [M.A.] ECLI:EU:C:2023:543), zum anderen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats seines Aufenthalts darstellt. Aus dem Vorliegen der Verurteilung darf nicht schon auf die Erfüllung des zweiten Kriteriums geschlossen werden, stattdessen sind diesbezüglich eigene behördliche Feststellungen zu treffen. II. Die "Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats" iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU liegt dann vor, wenn das Verhalten des Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats des Aufenthalts darstellt, mag dies auch nicht so explizit wie in Art 27 Abs 2 UAbs 2 RL 2004/38/EG zum Ausdruck kommen. III. Durch die Verurteilung wegen einer "besonders schweren Straftat" tritt keine Beweislastumkehr dahingehend ein, dass nunmehr der Drittstaatsangehörige mit Flüchtlingseigenschaft beweisen müsste, dass von ihm keine Gefahr iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU ausgeht. IV. Die Mitgliedstaaten werden durch Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft lediglich ermächtigt, nicht aber verpflichtet. V. Bei Aberkennungsentscheidungen iSd Art 14 Abs 4 lit b RL 2011/95/EU ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, mithin die Möglichkeit von Maßnahmen zu prüfen, die die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigen.
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Entscheidungsdatum: 06.07.2023
Aufbereitet am: 01.12.2023
2873
Verweigerung der Ausstellung eines Fremdenpasses stellt Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit dar
Leitsätze
Das Grundrecht auf Ausreisefreiheit erfordert die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen und die Beachtung der Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt".
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Entscheidungsdatum: 28.06.2023
Aufbereitet am: 30.11.2023
2872
Zum Wert der freien Station bei Fehlen regelmäßiger Aufwendungen
Leitsätze
Aus § 11 Abs 5 zweiter und dritter Satz NAG kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Wert der freien Station den Betrag der (in Höhe der Richtsätze des § 293 ASVG) notwendigen Unterhaltsmittel dann schmälert, wenn keine Mietaufwendungen (bzw keine anderen regelmäßigen Aufwendungen) anfallen; eine Anrechnung auf das notwendige Einkommen bei Unterschreitung der Mietkosten bis zur Höhe des Wertes der vollen freien Station ist nicht vorgesehen.
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Entscheidungsdatum: 07.06.2023
Aufbereitet am: 29.11.2023
2871
Zur Aufenthaltstitelerteilung iSd § 27 Abs 1 NAG bei geschiedener (Aufenthalts-)Ehe
Leitsätze
I. Wenn der - zuletzt über einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs 1 Z 2 NAG verfügende - Revisionswerber im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des LVwG die Voraussetzungen für den "Familiennachzug" nicht mehr erfüllt, weil seine dem Aufenthaltstitel zugrunde liegende Ehe zuvor geschieden worden ist, er folglich die Eigenschaft als Familienangehöriger iSd § 2 Abs 1 Z 9 NAG nicht mehr aufweist und daher die diesbezügliche besondere Erteilungsvoraussetzung nicht erfüllt, steht ihm gemäß § 27 Abs 1 NAG jedoch auch in einem solchen Fall ein verselbstständigtes Aufenthaltsrecht zu, sofern kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs 1 NAG vorliegt und die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 2 NAG erfüllt sind. II. Der Versagungsgrund des § 11 Abs 1 Z 4 NAG kann - schon nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung - nur während des aufrechten Bestehens einer Aufenthaltsehe herangezogen werden. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung des LVwG an. Liegt in diesem Zeitpunkt keine Aufenthaltsehe (mehr) vor - etwa weil die Ehe inzwischen geschieden wurde - so ist der Versagungsgrund des § 11 Abs 1 Z 4 NAG nicht mehr heranzuziehen. III. Nach stRsp des VwGH ist unter dem im Verwaltungsverfahren zu beachtenden "Überraschungsverbot" zu verstehen, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung keine Sachverhaltselemente einbeziehen darf, die der Partei nicht bekannt waren. Der VwGH hat dazu bereits klargestellt, dass die zum "Überraschungsverbot" entwickelten Grundsätze auch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren maßgeblich sind, weil in diesem auf dem Boden des § 17 VwGVG sowohl das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs 2 AVG als auch der Grundsatz der Einräumung von Parteiengehör iSd § 45 Abs 3 AVG zu beachten sind.
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Entscheidungsdatum: 31.05.2023
Aufbereitet am: 28.11.2023
2870
Verkürzte Beschwerdefrist gemäß § 16 Abs 1 BFA-VG nach "beschleunigtem" Aberkennungsverfahren iSd § 7 Abs 2 AsylG
Leitsätze
I. § 7 Abs 2 AsylG über die Durchführung von beschleunigten Aberkennungsverfahren bestimmt in seinem zweiten Satz, dass das BFA innerhalb eines Monats ab Verständigung von der strafgerichtlichen Verurteilung seinen Bescheid zu erlassen hat. § 16 Abs 1 BFA-VG gewährt für den Status des Asylberechtigten aberkennende Bescheide auf der Grundlage des § 7 Abs 2 AsylG bei Hinzukommen weiterer Voraussetzungen in Abweichung von § 7 Abs 4 erster Satz VwGVG eine verkürzte Frist von nur zwei Wochen. II. Auch wenn das BFA die genannte einmonatige Frist nicht eingehalten hat, im Vergleich zur durchschnittlichen Verfahrensdauer jedoch rascher entschieden und laufend Ermittlungsschritte gesetzt hat, ist dennoch von einem beschleunigten Verfahren iSd § 7 Abs 2 AsylG auszugehen. Ein auf Aberkennung lautender Bescheid nach diesem Verfahren unterliegt daher der nur zweiwöchigen Beschwerdefrist iSd § 16 Abs 1 BFA-VG. III. Die Strenge des Kriteriums eines vom BFA geführten "beschleunigten Verfahrens" (oben Punkt II) stellt eine revisible Grundsatzfrage dar (Art 133 Abs 4 B-VG).
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Entscheidungsdatum: 02.06.2023
Aufbereitet am: 27.11.2023
2869
Verfolgung syrischer Kurden durch türkische Kräfte
Leitsätze
I. Eine Verfolgungsgefahr auf Grund einer Konversion (Verfolgungsgrund "Religion" iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK) ist dann anzunehmen, wenn die Konversion aus einer inneren Überzeugung erfolgte. Maßgebend dafür ist wiederum, dass der angenommene Glaube als Teil der Persönlichkeit des Antragstellers nach außen hin in Erscheinung tritt. II. Kurdischen Antragstellern aus den türkisch kontrollierten Landesteilen Nordsyriens droht auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit (Verfolgungsgrund "Rasse") eine asylrelevante Verfolgung durch die Türkei und ihr nahestehende Milizen.
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Entscheidungsdatum: 02.05.2023
Aufbereitet am: 24.11.2023
2868
Keine Asylgewährung für staatenlose Palästinenser aus dem Gaza-Streifen bei bestehendem Schutzanspruch durch die UNRWA
Leitsätze
I. Steht ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter dem Schutz oder erhält Beistand einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen (mit Ausnahme des Hohen Kommissars für Flüchtlinge gemäß Art 1 Abschnitt D GFK), so ist dieser gemäß Art 12 Abs 1 lit a Status-RL von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen. Dies bezieht sich jedoch nicht auch auf einen etwaigen Anspruch auf subsidiären Schutz, sodass diese Voraussetzungen bei einer Antragstellung auf internationalen Schutz unabhängig davon zu prüfen sind. II. Entfällt der Schutz oder Beistand einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen (hier: UNRWA), aufgrund dessen Bestehens eine Anerkennung als Flüchtling gemäß Art 12 Abs 1 lit a Status-RL ausgeschlossen war, so ist stets zu differenzieren, ob dies von der betroffenen Person selbst veranlasst wurde oder aus nicht von ihr zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Gründen geschehen ist. Liegt der Entfall des Schutzes bzw Beistandes im Verhalten der betroffenen Person begründet, so ist diese weiterhin von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen.
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Entscheidungsdatum: 08.11.2022
Aufbereitet am: 23.11.2023